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Wirtschaft: Hände weg!

Die SPD soll die Reformbremse ziehen, fordern Linke. Kritiker warnen: Das würde den Aufschwung blockieren

DIE ZUKUNFT DER REFORMEN – WO DIE REGIERUNG HANDELN MUSS

Von C. Brönstrup, H. Jahberg,

U. Weidenfeld und F. Wisdorff

Ruhe ist derzeit in Berlin die erste Politikerpflicht. Nach Gerhard Schröders Demission vom Amt des SPD-Parteichefs wolle man die nächsten Reformen „ohne Hektik“ angehen, ließ die Regierungskoalition vergangene Woche wissen. „Verstolpern“ dürfe man nichts, mahnte der neue SPD-Chef Franz Müntefering zur Besonnenheit. „Zeit nehmen“ müsse man sich mit den nächsten Gesetzen, sagte wenig später ein Regierungssprecher. Und „Ruhe im Karton“ sehnte der rechte Seeheimer Kreis herbei.

In der Koalition wirken die ätzenden Kommentare der Reform-Kritiker und der Beinahe-Sturz des Kanzlers noch nach. Doch zu viel Bedächtigkeit ist gefährlich, warnen Wirtschaft und Ökonomen. „Ohne Reformen kein Wachstum und keine zusätzliche Beschäftigung“, sagt Ludwig Georg Braun, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). Den schönen Aufschwung in diesem Jahr müsse man in Frage stellen, werde jetzt nicht weiter reformiert, droht Christoph M. Schmidt, Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen.

„Die Grenze ist erreicht“

Doch davon wollen nicht alle in der SPD etwas wissen. Im Gegenteil, die Kritik an den Reformen treibt die Sozialdemokraten noch immer um, viele hätten sie am liebsten zurückgedreht. Die Praxisgebühr – ungerecht. Die hohen Zuzahlungen bei der Krankenversicherung – unzumutbar. Die höheren Kassenbeiträge auf Betriebsrenten – unsozial. Die Rentenreform – nicht ausgewogen. Die ganze Politik – gescheitert, befand etwa Ottmar Schreiner, der SPD-Aushänge-Linke.

Mit dem Frust steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Sozialdemokraten traditionellen Gerechtigkeits-Projekten wie einer höheren Erbschaftsteuer oder der Wiedereinführung der Vermögensteuer entsinnen – und sie auf die Agenda der Regierung setzen. Selbst den sonst reformfreudigen SPD-Wirtschaftsexperten Rainer Wend hat der Umfragen-Absturz seiner Partei nachdenklich gemacht. „Bei den kleinen und mittleren Einkommen ist die Belastungsgrenze erreicht“, vermeldet er.

Zugleich aber türmen sich im Land die Probleme: In der Pflegeversicherung droht schon bald ein enormer Beitragsanstieg, den Rentenkassen geht das Geld aus, und eine Erholung auf dem Arbeitsmarkt lässt trotz aller neuen Hartz-Gesetze mindestens bis zum Sommer auf sich warten. Und mit Epcos, Siemens und Rodenstock kündigten gleich drei deutsche Top-Unternehmen in den vergangenen Tagen an, Arbeitsplätze in Billiglohnländer zu verlagern. Steuern, Löhne und Nebenkosten seien dort schlicht niedriger, hieß es zur Begründung knapp von den Firmenchefs.

Deswegen muss weiter reformiert werden, verlangt DIHK-Chef Braun – sonst gehe es bergab. Ein Reformstopp „bedeutet steigende Beiträge für Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung, kein Aufholen bei Innovation und Forschung sowie insgesamt weniger Investitionen und damit weniger Arbeitsplätze“, urteilt er. Beistand bekommt er von Ulrich Pfeiffer, Chef des Managerkreises der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Für die langfristige Entwicklung sei der Kurs der Partei schädlich – bei Standortentscheidungen könnten Unternehmen das Land meiden, weil sie die deutsche Politik nicht für glaubwürdig hielten. Die Masse der Wähler, so Pfeiffer, müsse akzeptieren, dass weitere Umbauten nötig seien.

Sogar den Aufschwung könne ein Reformstopp ausbremsen, warnen Wirtschaftsforscher. RWI-Forscher Schmidt befindet, die neue Prognose von 1,8 Prozent Wachstum in diesem Jahr hätten seine Fachleute „unter der Annahme der vollen Durchsetzung der geplanten Reformen in den Sozialsystemen“ errechnet. Die Zögerlichkeit Berlins sei unberechtigt, denn die Regierung habe noch eine lange Liste von Aufgaben. Würden diese nicht erfüllt oder gar zurückgenommen, müsse man auch die Konjunkturprognose wieder in Frage stellen. Mit bösen Folgen für den Arbeitsmarkt, befindet Michael Burda, Wirtschaftsprofessor an der Berliner Humboldt-Uni. „Wenn die Arbeitsmarkt-Reformen wieder einkassiert werden, wird sich an der Beschäftigungsmisere auch in diesem Jahr kaum etwas ändern“, glaubt er.

Steuern von den Reichen

Doch nicht nur für das, was sie unterlässt, bekommt die Regierung schlechte Noten. Auch ihre Herzensangelegenheiten, etwa die Lehrstellenabgabe, sind unbeliebt – sogar bei den regierungsnahen Experten. Dass statt überbetrieblicher Ausbildung mit der neuen Abgabe gewöhnliche Lehrstellen in Unternehmen gefördert werden sollen, hält das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), eine Abteilung der Bundesagentur für Arbeit, für keine gute Idee. Denn Jugendliche, die überbetrieblich ausgebildet wurden, seien dynamischer, flexibler und mobiler als jene, die in einem Betrieb gelernt hätten, sagt IAB-Ausbildungs-Experte Hans Dietrich.

Und langfristig seien ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt womöglich besser, als die herkömmlicher Lehrlinge. Dies hätten Studien aus Holland und Dänemark gezeigt. Nun arbeitet auch das IAB an einer solchen Untersuchung, Ende des Jahres soll sie erscheinen. Rot-Grün lässt sich davon allerdings nicht beirren – „wir haben den festen Willen, etwas für die jungen Leute zu tun“, bekannte SPD-Chef Franz Müntefering am Freitag.

Das könnte man eleganter machen, findet Humboldt-Ökonom Burda. „Wer mehr Gerechtigkeit will, sollte keine unsinnige Lehrstellenabgabe erheben, sondern das Steuersystem radikal vereinfachen“, schlägt er vor. Dann gebe es keine Schlupflöcher und Abschreibungsmodelle mehr, „und die Reichen würden wieder mehr Steuern zahlen“.

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