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Wirtschaft: Hanne-Marei Büntzel

Geb. 1945

Alles geordnet, alles erstarrt in Ordnung. Hatten wir es nicht wirklich schön!“, beteuerte sie immer wieder, als die Krankheit sie zermürbte. Vater, Mutter, Kind. Die Unzertrennlichen.

Sie hat immer zu Hause gelebt. Sie hatte eine eigene Wohnung, irgendwann nach dem Krebstod der Mutter, aber die grenzte an die des Vaters, Tür an Tür.

Der Vater: Arzt, ein humoriger Tyrann, der die Seinen eng bei sich hielt. Der Steglitzer Kreisel, die Wohnung der Eltern war dort, die Praxis des Vaters, später auch ihre eigene Praxis.

Da war eine unbestimmte Sehnsucht zu entkommen, die empfand sie, und spottete zugleich darüber, meist eine Zigarette dabei in der Hand: „Fernweh verspüren doch nur jene, die zu Hause nicht zurechtkommen.“ Sie kam mit allem zurecht. Blond, schlank, intelligent, gut aussehend. Immer auf ihr Äußeres bedacht, immer hofiert und dennoch nie Prinzessin auf der Erbse. Sie gab sich arrogant zuweilen, aber nur aus Unsicherheit.

Eigentlich hatte sie Theaterwissenschaft studieren wollen, aber sie begriff schnell, dass sie sich mit den Illusionen anderer auf Dauer nicht abgeben wollte.

„Kannst du denn einen Nachttopf leeren?“ Der Vater war skeptisch, alle waren skeptisch: verwöhnte Tochter aus gutem Haus, die nun Medizin studieren wollte.

Sie konnte. Ohne ihr musisches Talent zu verleugnen. Resultat: Die Dissertation über Tschechow als Arzt und Patient. Ihr großes Vorbild. Denn Ärzte, gute Ärzte, tun zunächst nichts anderes als gute Schriftsteller: Sie hören geduldig zu.

Ihr Ruf als Ärztin war makellos, sie war perfekt, in der Diagnose wie im Gespräch, ohne je steril oder gar geschäftsmäßig zu wirken. Und alles, der Kummer, die Schmerzen anderer, schienen an ihr abzugleiten: „Es gibt aber solche, die um so sauberer werden, je mehr sie den Schmutz des Alltags kennen lernen…“

Hingelebt hat sie auf die Urlaube. Immer gemeinsam mit den Eltern. Im Autoreisezug nach Genua, dann weiter nach Sardinien. Bis zum Tod der Mutter, jedes Jahr, über dreißig Jahre, immer Sardinien, vier bis sechs Wochen. Strand, Essen, Strand, Freunde. Im Winter die Seiser Alm, Skifahren. In späteren Jahren dann Venedig. Und die große Liebe des Alters, die Toscana. Sehnsuchtsorte, die sie nie mit einem Mann bereiste.

Sie war sehr begehrt. Aber ihr Begehren blieb unverbindlich. Ein einziges Mal war es anders, da liebte sie: einen italienischen Kapitän – obwohl er verheiratet war, oder vielleicht gerade deshalb.

Also blieb sie allein. Und manchmal fehlte ihr, wenn sie nach Hause kam, die Schulter, an die sie sich lehnen konnte, das gab sie offen zu.

Sie hatte enge Freunde. Aber sie war nicht mehr auf der Suche. Schon gar nicht nach dem frühen Tod der Mutter. Seitdem waren sie und ihr Vater unentrinnbar aufeinander angewiesen. Und dann waren da noch die Hunde, die nur dazu dienten, sie selbst an die Kette zu legen. Englische Doggen, nicht leicht zu pflegen, Dolly, Polly, Robbi, für die eigens ein Zimmer hergerichtet war.

Alles geordnet, alles erstarrt in Ordnung. Als sie dann doch noch einmal hätte anfangen können, für sich selbst zu leben, war es zu spät. Nach dem Tod des Vaters blieb ihr selbst kaum noch ein Jahr.

So lange es ging, hat sie die Krankheit vor anderen verheimlicht, sie wollte niemandem zur Last fallen.

Eine Meisterin des Arrangements, im Leben, im Haushalt, im Garten. In ihrem Ferienhaus, dem angemieteten, hat sie selbst die Kacheln im Bad bemalt, jedes Detail in der Wohnung stimmte, das war ihr Beruhigung bis zuletzt.

Sie hatte keinen Schrecken vor dem Tod, aber auch keinen Kampfeswillen mehr weiterzuleben. Ganz wie Tschechow, der Schwerkranke: „…ich habe keine große Lust mehr zu leben! Freilich bin ich auch nicht bereit zum Sterben, aber das Leben ist mir wirklich auch ein wenig lästig geworden. Mit einem Wort: Meine Seele ist gleichsam in einem gefrorenen Traum erstarrt“.

Ihr Traum: Kinder, nicht die eigenen, die Enkelkinder ihrer besten Freundin, die in ihrem Garten spielten, nicht dem eigenen Garten, dem angemieteten Garten in Krakow am See, ihrem letzten Sehnsuchtsort.

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