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Berlin lockt die Kreativen, die Großindustrie macht einen Bogen um die Spree. Dabei hat die Stadt großes Kapital – die Hochschulen.

© Illustration von Birgit Lang für den Tagesspiegel

Hauptstadt im Wandel: Berlins Wirtschaft – nicht ganz normal

Auf eine fünfjährige Vereinigungseuphorie folgte eine zehnjährige Depression. Inzwischen geht es in Berlin aufwärts. Die Wirtschaft muss sich mit Hilfe der Wissenschaft entwickeln. Und das braucht Zeit.

In der grünen Zukunft ist alles ganz wunderbar. Die Stadt sauber, das Klima gerettet und die Wirtschaft auf Draht. Eine tolle Sache, wenn die Berliner Grünen demnächst in der Regierung sitzen und ihr Wahlkampfversprechen umsetzen – 100 000 zusätzliche Arbeitsplätze. Der Vorsprung der anderen wäre fast aufgeholt, die Wirtschaftskraft der Stadt entspräche endlich ihrer Größe. Hoffentlich haut das auch hin mit den vielen Arbeitsplätzen, wenn der nächste Wirtschaftssenator Volker Ratzmann heißt und den Bau der A 100 verhindert. Für die Berliner Wirtschaft ist die Autobahn nach Treptow jedenfalls eines der wichtigsten Infrastrukturprojekte überhaupt.

100 000 Arbeitsplätze sind gar kein Problem – wenn Berlin eine normale Stadt wäre. Denn verglichen mit ähnlichen Ballungsräumen gibt es hier 90 000 Industriearbeitsplätze zu wenig. Da ein Arbeitsplatz im verarbeitenden Gewerbe aber drei weitere im Handwerk und bei Dienstleistern nach sich zieht, sind sogar 270 000 Arbeitsplätze drin. Die ganz normale Metropole Berlin, ausgestattet mit einer durchschnittlichen industriellen Basis, hätte kaum noch Arbeitslose, wenig Schulden und eine wirtschaftliche Dynamik, die sich selbst trägt. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Und umgekehrt.

Als 1990 die beiden Stadthälften zusammenkamen, waren die Voraussetzungen für Boomtown Berlin nach Londoner oder New Yorker Vorbild, wie sich mancher das damals ausmalte, in Wirklichkeit miserabel. Von den 100 größten privaten Unternehmen hatte nur ein einziges (Schering) seinen Sitz in Berlin. Und die Steuereinnahmen kamen damals in der glücklichen aber kaputten Stadt gerade mal auf eine Drittel des Niveaus von Hamburg, München oder Köln. Ein Elend. Von Anfang der 90er Jahre bis 2005 verlor die Stadt 238 449 Arbeitsplätze, der überwiegende Teil in der Industrie. Über zehn Jahre, bis 2004, stieg die Arbeitslosenquote an, Berlin wurde zur Armuts- und Arbeitslosenmetropole.

Aus so einem Tal kommt keine Wirtschaft in ein paar Jahren. Doch es geht inzwischen bergauf. Seit 2005 wächst die Wirtschaft in Berlin schneller als im Rest der Republik, 146 598 neue Arbeitsplätze sind entstanden, im vergangenen Jahr allein 5000 in der Industrie.

„Viele Jahre hieß es, Berlin braucht keine Industrie. Das hat wehgetan“, erinnert sich Predrag Savic, Betriebsrat im Siemens Dynamowerk, einem der neuen Leuchttürme der Berliner Wirtschaft. In der Kraftwerkstechnik und im Energiemaschinenbau, in der Pharmaindustrie und der Medizintechnik ist eine Menge entstanden. Überhaupt in der Gesundheitswirtschaft, die zu den Schwerpunktfeldern (Clustern) der Wirtschaftspolitik gehört. Diese Politik hat sich in den vergangen Jahren geändert, was auch etwas mit dem Betriebsrat Predrag zu tun hat. Rund 70 Betriebsräte von Metall- und Elektrofirmen appellierten 2005 an den Senat, sich mit der Industrie zu befassen. Heute gibt es den „Masterplan Industrie“, eine Art wirtschaftspolitisches Grundsatzprogramm von Politik, Verbänden und Gewerkschaften, und den „Steuerungskreis“ Industriepolitik beim Regierenden Bürgermeister, der eine ressortübergreifende, abgestimmte Politik zugunsten der Wirtschaft erleichtern soll.

Das ist auch nötig, wenn man dem Jammern und Klagen der Kammern glauben mag. Danach ist die Doppelverwaltung auf Landes- und Bezirksebene der größte Standortnachteil. Zweifellos verwirrt das Verwaltungs- und Institutionengeflecht – aber es ist schwer anders denkbar in der ziemlich großen Stadt. Kaum erträglich ist aber, wenn Verwaltungshandeln den ohnehin nicht sonderlich robusten Firmen das Leben zusätzlich erschwert.

Lesen Sie auf Seite 2, womit Wirtschaftssenator Wolf Berlin wieder auf Kurs gebracht hat.

Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linke) hat das zu korrigieren versucht. Nach einem kurzen Aufenthalt des Spaßpolitikers Gregor Gysis im Amt des Wirtschaftssenators rückte der Arbeiter Wolf nach. Und machte einen guten Job. Zuverlässigkeit und Beharrlichkeit des Linken werden in der Wirtschaft geschätzt. Wohl das wichtigste Verdienst: Wolf hat die Wirtschaftförderung neu organisiert und diverse Organisationen fusioniert. Wichtiger noch aber ist der Paradigmenwechsel überhaupt.

Früher gaben Geschäftsführer der Berliner Wirtschaftsfördergesellschaft gerne hübsche Empfänge in New York und anderswo und prahlten dabei über die tollen Möglichkeiten Berlins. Bestandspflege um die Ecke gab es nicht mehr. Wolf hat das geändert. In jedem Bezirk gibt es nun einen vom Land bezahlten Ansprechpartner für die Firmen vor Ort. Die großen Industriebetriebe kommen nicht, das hat Wolf begriffen. Berlins Zukunft liegt in den vielen kleinen Firmen – die schon da sind oder die hier gegründet werden. Für diese Klientel muss Politik gemacht werden. In Bildung und Wissenschaft vor allem, und damit in den Bereichen, in denen jedes Bundesland die größten Spielräume haben.

Berlins Stärke: Vier Universitäten, vier große staatliche Fachhochschulen, mehr als 20 kleinere staatliche und private Hochschulen, drei Kunst- und Musikhochschulen und knapp 50 außeruniversitäre Forschungsinstitutionen. Großartig. Und mit erbärmlicher Wirkung auf die ansässigen Unternehmen, von denen nur die Hälfte überhaupt Kontakt zu einer wissenschaftlichen Einrichtung hat. Und schade ist die Quote der Wegzieher: Die Hälfte der Berliner Hochschulabsolventen wandert ab, weil es hier keine attraktiven Jobs gibt.

Wie macht man aus Wissen Produkte? In dieser Antwort liegt ein Schlüssel für Entwicklung und Wachstum der Stadt. Langsam, langsam entstehen Netzwerke aus Wirtschaft und Wissenschaft, etwa in der Metallindustrie. Aufgabe der Politik ist es, die beiden Seiten zusammenzubringen. Womöglich ist dabei die Zusammenlegung der Senatsressorts für Wirtschaft und Wissenschaft hilfreich. Und vielleicht passt die Schulverwaltung gut mit dem Arbeitssenator zusammen.

Zu den Stärken Berlins gehört die vergleichsweise gute Kinderbetreuung, zu den Schwächen das Image der Schulen, trotz des Trends zur Ganztagsschule. Tatsächlich ist jedes mittelmäßige Einkaufszentrum besser in Schuss als manches Schulgebäude. Ist es ein Ausweis von Zukunftsfähigkeit, wenn wir die Schulen verrotten lassen, aber hunderte von Millionen für drei Opern auszugeben bereit sind? Geld ist immer da. Es die Frage, wofür es ausgegeben wird.

Das so genannte Humankapital ist die Basis der Entwicklung. Mit gut ausgebildeten Arbeitskräften kann sich die Stadt profilieren. Sie kann es sich nicht leisten, zehn Prozent eines Altersjahrgangs ohne Abschluss aus dem Schulsystem in die Welt der Erwerbsarbeit zu entlassen. Eine irre Verschwendung von Ressourcen. Vor allem auch bei Migranten, deren Erwerbsquote ganz gravierend unter der von einheimischen Arbeitnehmer liegt. Das Beste wäre eine Kindergartenpflicht analog zur Schulpflicht. Immerhin: Nach Angaben von Bildungssenator Jürgen Zöllner besuchen rund 87 Prozent der drei- fünfjährigen Kinder mit Migrationshintergrund in Berlin eine Kita.

Nächstes Jahr eröffnet der Flughafen, beginnt womöglich der Bau der A 100 und werden die ersten der 100 000 Schlaglöcher in Berlins Straßen geflickt. Und Wirtschaftssenator Ratzmann vermarktet das ehemalige Flugfeld in Tegel für Betriebe der Green Economy. Er wird Geduld brauchen.

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