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Wirtschaft: Hella von dem Hagen

Geb. 1904

Sie ist fast blind, da findet sich kein Mann. Also darf die junge Frau studieren. Die Stirn glüht, die Beine werden weich. Als die Welt ins Trudeln gerät, hakt sich die kleine fieberkranke Hella auf der Straße beim Vater unter.

„Was ist das?“, fragt der streng.

„Mir ist so schwindlig.“

„Da reißt man sich zusammen!“

Das hat Hella sich gemerkt. Sie ist die jüngste unter den sechs Geschwistern, „der kleine Krümel“. Als Hella 1904 in der Winterfeldtstraße geboren wird, regiert der Kaiser das Land, der Mittelstreifen des Ku’damms gehört den Reitern, auf dem Potsdamer Platz kreuzen die Droschken. Streng katholisch geht es zu in der Berliner Adelsfamilie, mit Dienstmädchen und eisernen Prinzipien. Hellas Vater ist Landgerichtsrat, später preußischer Abgeordneter der Zentrumspartei und Geheimer Justizrat.

Die Hella ist ein Tolpatsch, denken die Erwachsenen. Dauernd stößt sie sich, wenn sie mit dem Holzpferd durch die Wohnung tobt, das Kind wirft mehr Milch um, als es trinken kann. – Hella nimmt die Welt nur in Schemen wahr, sie ist kurzsichtig, fast blind. Wie zum Ausgleich schärfen sich Hellas andere Sinne. Sie lernt, mit den Händen zu sehen, weiß bald ganz genau, wo auf dem Tisch die Gläser stehen, das Messer liegt, wo die Serviette. Bald erkennt sie jede Schwankung in der Stimme, ahnt, wenn jemand schmeichelt, flunkert, lügt. Wege muss sie nur einmal gehen, dann weiß Hella von dem Hagen: Diese Treppe hat 22 Stufen, hier die Kurve, da das Geländer.

Die Mediziner sind ratlos, nicht’s zu machen: Das Mädchen ist behindert. Da findet sich kein Mann – so hieß es damals. Also darf Hella nach dem Ersten Weltkrieg studieren. Unter hundert Studenten sitzen sechs Frauen im Hörsaal. Ende der Zwanziger träumt Hella von dem Hagen vom Richteramt, nach der Arbeit feiert sie mit Freunden und geht ins Theater. Draußen schmeckt das Leben nach Aufbruch, in der Familie bleibt es, wie es ist und schon vor 100 Jahren war. Eine eigene Wohnung? Wer nicht verheiratet ist, wohnt bei den Eltern und hat jede Nacht nach Hause zu kommen.

Als 1936 die Olympischen Spiele in Berlin eröffnet werden, ist bei der Stadionfeier auch Hella von dem Hagen mit einem Medizinball dabei. Aber Richterin wird sie unter Hitler nicht – weil sie eine Frau ist. Bis zum Kriegsende arbeitet sie als Juristin für die Papierindustrie, dann macht sie sich selbstständig.

Die ersten zehn Jahre ist Berlin ihr einziger Klient, die Juristin vertritt die Stadt im Streit mit Kleingärtnern, dann geht es um einen Fall von Hühnerpest auf der Grünen Woche oder um Schokolade, die erst beschlagnahmt und dann schimmelig geworden ist. Seit 1953 berät sie bei Scheidungen, Verkehrs- und Mietsachen. Bis tief in die Nacht sitzt sie am Schreibtisch und steht am nächsten Tag um neun wieder im Gericht.

Die Spezialität der Rechtsanwältin wird die Vormundschaft. Hunderte Menschen, die ihre Geschäftsfähigkeit verloren haben, vertritt sie. Zwei Waisenkinder, die sie betreut, nimmt Hella von dem Hagen an den Wochenenden zu sich, das Mädchen später sogar ganz. Sie ist 80, Deutschlands älteste Rechtsanwältin, als sie ihren letzten Fall abgibt.

Es gibt ein Foto von 1927, aufgenommen im Hotel Kaiserhof. Unter einem Kronleuchter sitzt sie da im weißen ärmellosen Kleid auf dem Parkett, um sie herum Dutzende streng frisierter Frauen, Männer im Smoking und mit Schnurrbart. Hella von dem Hagen inmitten ihres adligen Familienverbandes. Seit 1890 trifft er sich alle zwei Jahre.

Ihre privaten Termine notiert sie in einem dicken Buch: den Besuch zum Tee, die Logiergäste, die Treffen der Freunde der Philharmonie, des internationalen Lyzeumsverbands, des Malteserritterordens, des Deutschen Adelsrechtsausschusses… Es verwundert nicht, dass Hella von dem Hagen in den späten Sechzigerjahren ihre Ansichten nicht tiefgreifend ändert. Was sollte sie mit freier Liebe zu tun haben, was mit Sit-Ins und revolutionären Schlachtrufen? Hella von dem Hagen hasste es zwar, als eine Frau von 60 Jahren im Gericht noch als Fräulein angesprochen zu werden – aber was, bitteschön, sollte das denn: Ein Richter, der die Anwälte duzt?

„Wie kommen Sie dazu?“, fährt sie dem Richter in die Parade.

„Ach, komm schon, nenn’ mich Olaf!“

„Im Leben nicht!“

Alles ändert sich für Hella von dem Hagen mit 65, als sie die Ärzte am Auge operieren. Auf einmal sieht sie Farben, erkennt Kontraste, Kleingedrucktes. Sie blüht auf – und taucht noch ein paar Meter tiefer ein ins Leben der Adelsvereinigung. Sie geht zu Bällen, Empfängen, Tanztees. Ihre schlichten Kostüme tauscht sie um in eine Garderobe aus Samt und bunter Seide, sie trägt jetzt Schmuck, am liebsten Gold. Knapp zwanzig Jahre hält das Wunder, dann färbt sich die Welt vor ihren Augen wieder grau. Mehr hatten ihr die Ärzte nie versprochen.

Hella von dem Hagen hat ihre Geburtstage immer groß gefeiert, lud die Festgesellschaft ins Hotel Seehof, ins Hotel Berlin, ins Gerhus oder Paulsborn. Penibel schrieb sie ihre Einladungen, die Tischkarten, das Menü. Aufrecht trat sie in den Saal, saß noch mit 99 auf den härtesten Stühlen kerzengerade. Zu ihrem 100. hätte Hella von dem Hagen das nicht mehr gekonnt – also starb sie sechs Tage davor.

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