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Wirtschaft: „Ich bin oft am Ende meiner Kräfte“

Eine Schwester erzählt vom Alltag auf einer Berliner Krebsstation – und der Gefährdung der Patienten

Buttermilch kostet mich viel Zeit. „Ich will meine Buttermilch“, ruft eine Patientin. Sie ist kaum zu beruhigen. Gestern hat sie das Getränk bestellt, heute fehlt es auf dem Essenstablett. Wenn man auf einer Krebsstation liegt, jeden Tag mit dem Gedanken an den Tod konfrontiert wird und viel über sich ergehen lassen muss, dann kann so eine Packung Buttermilch etwas sehr Zentrales sein. Für mich bedeutet die fehlende Packung 15 Minuten Verzögerung. Zeit, die mir den ganzen Tag fehlen wird. Zeit, die vergeudet ist. Denn ich kann es nicht ändern, sondern der Patientin nur erklären: Aus Spargründen ist das Essen genau vorportioniert. Eine Buttermilch extra – da macht die Küche nicht mit.

Wir Krankenschwestern bekommen immer mehr Arbeit aufgebürdet. Blutentnahmen macht schon längst kein Arzt mehr, sondern wir Schwestern oder die Krankenpfleger. Das Legen von Verweilkanülen für regelmäßige Infusionen ist schon Routine für uns. Den Ärzten kann ich aber keinen Vorwurf machen. 16 Stunden am Stück Dienst sind für die normal. Daneben habe ich noch eine detaillierte Dokumentationspflicht. Gibt es Auffälligkeiten bei den Patienten? Jede Kleinigkeit muss aufgeschrieben und abgehakt werden. Aus dem Pflegeaufwand ergibt sich, wie viele Stellen unsere Station bekommt. Also sollen wir möglichst viel aufschreiben. Helfen tut es trotzdem nicht: Jeder schiebt einen riesigen Überstundenberg vor sich her. Aushilfskräfte dürfen aber nicht eingestellt werden. Da bleibt man bei einem Engpass eben länger. Neulich traf es mich nach neun Stunden Nachtdienst – ohne Pause. Die Überstunden können ja abgefeiert werden, heißt es von der Führung. Aber dann wird es für die Kollegen nur noch enger.

Bei Krebspatienten ist es sehr wichtig, mit ihnen so viel Zeit wie möglich zu verbringen. Sie sind verängstigt, haben den Tod vor Augen. Nur: Am Patientenbett kann ich kaum noch Zeit verbringen, selbst bei Sterbenden nicht. Auch für die Betreuung von Angehörigen ist kaum noch Raum. Wir entfernen uns immer mehr von den Patienten. Manchmal muss die Station zu zweit geschmissen werden. Eigentlich sind vier Schwestern oder Pfleger vorgesehen. Besonders schlimm ist, dass ich mittlerweile die Gesundheit der Patienten bewusst gefährden muss. Gehe ich zu einem Krebskranken, ist zum Beispiel das Desinfizieren meiner Hände Pflicht. Denn das Immunsystem von Krebskranken ist häufig extrem geschwächt. Der einfachste Schnupfen kann den Tod bedeuten. Damit das Desinfektionsmittel aber wirken kann, braucht es eine Minute Zeit. Zeit, die ich nicht habe. Manchmal ist es wie in einem schlechten Konzert. Das Stationstelefon klingelt, Patienten klingeln. Alles gleichzeitig. Was ich den ganzen Tag gemacht habe, wird mir häufig erst zu Hause bewusst. Ich bin oft am Ende meiner Kräfte.

Selbst die Putzkräfte müssen schon an der Hygiene sparen. „Sichtputzen“ heißt das in der Dienstsprache. Auf Deutsch: Was nicht dreckig aussieht, wird nicht sauber gemacht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann die „Sichtpflege“ kommt.

Bei einem Wirtschaftsbetrieb würden bei solchen Zuständen die Gäste wegbleiben. Patienten können das nicht. Sie können sich nur beschweren. Das wäre die einzige Möglichkeit, um die Zustände vielleicht zu ändern. Aber wer beschwert sich schon bei jemandem, von dem sein eigenes Leben abhängt?

Aufgezeichnet von Bernd Hops.

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