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„Uns geht es gut, weil wir die Industrie haben“, sagt der IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber.

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IG-Metall-Chef Berthold Huber: „Die Politik schwächt die Demokratie“

IG-Metall-Chef Berthold Huber spricht mit dem Tagesspiegel über Niedriglöhne, Stuttgart 21 und die Bedeutung der Industrie.

Herr Huber, sind Sie für Stuttgart 21?

In dem Streit geht es nach meiner Beobachtung jenseits der technischen und finanziellen Fragen um Beteiligung. Die Menschen hatten in der Vergangenheit kaum die Möglichkeit, ihre Meinung wirksam zur Grundentscheidung über dieses Großprojekt zu sagen. Deshalb wurde in Stuttgart durch die Proteste eine andere Form der Auseinandersetzung und Debatte erzwungen.

Mit welchen Konsequenzen?
Wir brauchen mehr plebiszitäre Elemente, damit die Demokratie nicht an Zustimmung und Beteiligung verliert.

Wenn die Bevölkerung entscheidet, wird kein einziges Kraftwerk mehr gebaut.
Ich bin da nicht so pessimistisch. Wenn man das anständig macht und die Menschen nicht überrumpelt, sondern informiert und beteiligt, eben auch bei industriellen oder infrastrukturellen Projekten, dann werden die bei ihrer Entscheidung berücksichtigen, wo sie ihr Brot verdienen. Den Wohlstand verdanken wir der Industrie – und das wissen die Leute.

In Stuttgart geht das Bürgertum auf die Straße, im Hamburger Schulstreit war das ganz ähnlich. Gleichzeitig hält sich die Arbeiterklasse zurück. Was ist los mit der IG Metall in diesem lauwarmen Herbst?
Es ist schon interessant, dass die sogenannten bürgerlichen Schichten jetzt Protestformen wählen, die sie früher mehrheitlich abgelehnt haben. Die IG Metall ist keinesfalls lahm. Wir haben in diesem Herbst eine ganze Menge Aktivitäten gegen das schlichte Weiter-so in Politik und Wirtschaft auf dem Programm. Und in den kommenden Wochen wollen wir noch mal zulegen. Es geht uns auch um eine nachhaltige politische Mobilisierung der Menschen.

Früher hat die IG Metall mit Schlagworten wie „Ende der Bescheidenheit“ oder „Rente mit 60“ die Debatte mitbestimmt.
Begriffe sind wichtig, deshalb ist ja auch die Überschrift bei unseren Aktionen „Kurswechsel“. Dabei geht es uns nicht allein um die materielle Seite. Es geht auch um die Frage, ob den Leuten mit ihren Problemen endlich zugehört wird. Aktuell haben wir rund 300 000 Arbeitslose, die zwischen 15 und 25 Jahre alt sind – nimmt die Politik das mal zur Kenntnis? Nimmt Politik endlich zur Kenntnis, dass Leiharbeit missbraucht wird? Und nimmt man zur Kenntnis, dass die Rente mit 67 für diejenigen unmöglich ist, die 40 Jahre schwere körperliche Arbeit hinter sich haben?
Mit rhetorischen Fragen schaffen Sie keinen Kurswechsel.
Ich will am Ende des Tages etwas erreichen. „Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts“, ist nicht meine Parole. Mir geht es ja nicht um punktuelle Aktivitäten, sondern wir treiben das permanent weiter. Das wird ein schwieriger Weg durch die Mühen der Ebene – aber dieser Weg verspricht mehr Erfolg.

Warum so bescheiden? Die Regierung hat auch Vorschläge von Ihnen aufgegriffen, etwa die Abwrackprämie. Alles in allem haben doch Politik, Gewerkschaften und Arbeitgeber die Krise gut gemanagt.
Der Sozialstaat hat seine Kompetenz unter Beweis gestellt. Mit unserer Politik „Keine Entlassungen in der Krise“ ist es uns gelungen, Massenentlassungen zu verhindern. Durch eine Tarifpolitik, die die Beschäftigungssicherung in den Mittelpunkt gestellt hat. In früheren Krisen haben wir hunderttausende Arbeitsplätze verloren. Das war jetzt anders.
Auf dem Arbeitsmarkt hilft die Demografie: Die gut ausgebildete Arbeitskraft wird zur wertvollen Mangelware.
Wir brauchen immer mehr höher qualifizierte Arbeitskräfte, allein in der Metall- und Elektroindustrie suchen wir hunderttausende Fachleute. Es ist fahrlässig, sich auf die demografische Entwicklung zu verlassen. Staatliches Handeln ist bei schulischer Bildung, Aus- und Weiterbildung notwendiger denn je. Es wird zu wenig getan, auch in den Betrieben. Deshalb werden sich nicht zuletzt die Tarifpartner künftig diesen Themen stärker zuwenden müssen.

Der neue Ausbildungspakt findet ohne die Gewerkschaften statt. Warum ist der DGB in letzter Minute abgesprungen?
Dass der DGB, also unsere Seite, einen Kotau macht vor irgendwelchen Bürokraten des Arbeitgeberlagers – das fällt mir im Traum nicht ein. Die Aufweichung des Jugendarbeitsschutzes oder die Einführung von zweijährigen Ausbildungen ohne Beteiligung der Tarifparteien, die davon etwas verstehen, machen wir nicht mit. Es geht da auch um Achtung gegenüber den Leuten, die wir vertreten. Und ich lasse mir nicht von Bürokraten im Arbeitgeberlager, die sonst nur neoliberalen Unfug daherreden, die Erlaubnis zur Teilnahme an Pakten erteilen.

Allein in Berlin gelten rund 20 Prozent der Schulabgänger als nicht ausbildungsfähig. Durch eine „Ausbildung light“, also zwei Jahre, hätten die bessere Chancen auf dem Ausbildungsmarkt.
Wir brauchen die dreieinhalbjährige Ausbildung unbedingt, weil die Qualifikationsanforderungen größer werden.

Aber nicht in Dienstleistungsbereichen.
Moment. Muss man für Garderobiere zwei Jahre lernen, wie man uns das vorgeschlagen hat? Und braucht ein Parkraumwächter eine zweijährige Ausbildung, wie die Arbeitgeber das möchten? Oder geht es denen nur um Azubis als billige Arbeitskräfte? Für die Industrie brauchen wir zwingend drei- und dreieinhalbjährige Ausbildungen.

Die meisten Arbeits- und Ausbildungsplätze gibt es aber nicht in der Industrie.
Dennoch plädiere ich ganz entschieden dafür, dass wir unsere industrielle Basis stabilisieren. Die Industrie ist unsere wichtigste Wertschöpfungsquelle. Allen anderen in Europa, aber auch den USA, die viel weniger Industrie haben als wir, geht es deutlich schlechter als uns.

Unseren Firmen geht es auch deshalb gut, weil sich die Gewerkschaften bei der Lohnentwicklung zurückgehalten haben.
Nach unseren Tarifen in der Metall- und Elektroindustrie würden sich alle anderen in Europa die Finger ablecken.

Der verteilungspolitische Spielraum wurde ausgeschöpft?
Ja. Weil wir uns gesamtwirtschaftlich an der Inflations- und Produktivitätsentwicklung orientieren. Die Tarifentwicklung in unserer Branche ist in Ordnung. Das Problem ist der Niedriglohnsektor mit fast sieben Millionen Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können.

Was tun die Tarifparteien dagegen?
In der Stahlindustrie haben wir ja inzwischen für Leiharbeitnehmer den gleichen Lohn für gleiche Arbeit durchgesetzt. Gesamtmetall hat es in der Hand, ob wir das auch für die Metallindustrie anstreben. Entweder sie ziehen mit uns an einem Strang für eine gesetzliche Regelung oder werden damit ständig in den Betrieben konfrontiert. Die Politik wird sich einschalten müssen und gleichen Lohn für gleiche Arbeit ebenso einführen wie Mindestlöhne in den Branchen, in denen die Gewerkschaften so gut wie nicht vorkommen. Es ist doch schändlich, uns zu sagen, „regelt ihr das“, wenn wir in diesen Branchen kaum Mitglieder haben. Dass man die Leute nicht für Hungerlöhne arbeiten lässt, ist eine Frage, die das Selbstverständnis von Politik und Staat berührt.

Sie haben vor zehn Tagen einen bitteren Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben: Die Menschen hätten den Eindruck, dass die Banken „jede Entscheidung der Politiker dominieren können“. Anders sei die Nichtbeteiligung der Banken an den Krisenkosten kaum zu erklären. Haben Sie eine Antwort bekommen?
Bislang nicht.

Wenn die Banken geschont und das gemeine Volk belastet wird – warum lassen die Leute sich das gefallen?
Die Leute registrieren genau, was passiert, und sie reagieren. Die am meisten von der Krise betroffen waren und sind, sind über die Untätigkeit der Politik empört.

Sie gehen aber nicht auf die Straße.
Das werden wir sehen. Auf jeden Fall gehen immer weniger zur Wahl. Bei den NRW-Wahlen lag die Beteiligung bei 59,3 Prozent. Während in den betuchten Vierteln die Wahlbeteiligung stabil ist, gibt es die deutlichsten Rückgänge bei den Menschen, die am dringendsten die Politik brauchen. Es ist eine große Enttäuschung, dass nichts passiert ist nach diesem Finanzkrisen-Tsunami. Es gibt keine Finanztransaktionssteuer, und der Spitzensteuersatz hätte längst erhöht werden müssen, um für Steuergerechtigkeit zu sorgen. Natürlich schwächt das die Demokratie, wenn die Menschen das Gefühl haben: Die Politik kann oder will nichts tun.

Das Gespräch führte Alfons Frese.

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