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Wirtschaft: Ilse Rewald

(Geb. 1918)||Sie nannte sich Röttgen, sie nannte sich Treptow. Weil sie Jüdin war.

Sie nannte sich Röttgen, sie nannte sich Treptow. Weil sie Jüdin war. Werner, Ilses Ehemann, hat einen falschen Pass von der Reichsbahn bekommen und heißt jetzt „Erich Treptow“. Den gibt es wirklich. Er hat auch eine Frau, deren Identität Ilse annehmen soll, aber wie heißt Frau Treptow mit Vornamen? Wie alt ist sie? Wo ist sie beschäftigt? Muss alles korrekt sein im falschen Pass. Ilse steckt sich ein Parteiabzeichen an, ungefähr an der Stelle, wo früher der Judenstern angenäht war, geht zu Frau Treptow, sagt, sie komme vom Arbeitsamt, um Angaben zu überprüfen. Frau Treptow sträubt sich. Habe sie doch schon alles korrekt vermerken lassen. Was das nun wieder solle, diese Fragerei. Ilse bleibt ruhig, argumentiert mit verbrannten Akten, wegen der Bombenangriffe, und dass sie, die Frau Treptow, froh sein könne, nicht extra aufs Amt zitiert zu werden. Nun gut, sie heiße Maria Treptow, geb. Juretzko, geboren am 3. Mai 1917 in Beuthen. Ilse fragt nach der Schreibweise, notiert, verbirgt ihr Zittern. „Und wo sind Sie beschäftigt?“ – „Bei der Geheimen Staatspolizei.“

Ilse erzählte die Szenen aus ihrem Leben ohne Identität in der Hauptstadt der NS-Mörderbande jedes Mal etwas anders. Das Ergebnis im Publikum war immer das gleiche: Beklommenheit und Bewunderung. Wie hält man so etwas aus? Wann beginnt die Angst, den Verstand zu lähmen, der intakt sein muss, weil überall Gefahren lauern? Ilse Rewald antwortete: Es ging doch nicht anders. Es war die einzige Chance zu entkommen. Sie hatte nicht vor, etwas Heldenhaftes zu tun. Zur Heldin wurde sie erst 30 Jahre später erklärt, als sie begann, ihre Geschichte Studenten und Schülern zu erzählen. Die Anerkennung und Sympathie genoss sie in vollen Zügen. Sie wurde zur oft gebuchten Zeitzeugin.

Mit zwölf Jahren verliert Ilse ihren Vater, den Cello spielenden Tierarzt, der dem Vaterland im Ersten Weltkrieg seine Gesundheit geopfert hatte. Ilse ist 14, als Hitler Reichskanzler wird. In ihrer Klasse ist sie bald die einzige Jüdin. Den Schikanen und Anfeindungen trotzt sie noch ein Jahr, dann wechselt sie auf eine jüdische Handelsschule. Sie lernt Steno und Schreibmaschine, fängt bei einem jüdischen Rechtsanwalt an, der sich „Judenberater“ nennen muss. 1938, wenige Wochen nach der Pogromnacht, heiratet sie den Innenarchitekten Werner Rewald, auch jüdischen Glaubens. Gemeinsam wollen sie die Nazizeit durchstehen. Versuche auszuwandern sind gescheitert.

Ilse muss ab 1941 in einer Rüstungsfabrik Zwangsarbeit leisten. Weil Juden das Sprechen bei der Arbeit verboten ist, schreibt sie ihre Gedanken auf Zettel. So kann sie die harte Arbeit besser aushalten. Im Oktober hört sie von den ersten Deportationen. Vor der Abholung werden an die Betroffenen Erfassungsbögen verschickt, in denen alles Hab und Gut verzeichnet werden muss. Im Dezember erhalten Ilses Mutter und ihre Tante diese Listen. Damit die Familie nicht getrennt wird, beschließen Ilse und Werner, sich freiwillig deportieren zu lassen. Aber Werner bekommt keine Freistellung von seiner Arbeit bei der Reichsbahn. Im Januar 1942 werden Mutter und Tante abgeholt. Sie kommen ins Rigaer Ghetto.

Die Lebensmittelrationen werden immer schmaler. Das Ausgehen und das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel ist Juden schon lange verboten. Es häufen sich die Suizide. Ilse schreibt in ihr Tagebuch: „Die Selbstmorde erschüttern uns fast nicht mehr, wir beneiden jeden, der den Mut aufbringt und sich nicht mehr quälen muss.“ Als alle Familienmitglieder deportiert sind, also nicht mehr in Sippenhaft genommen werden können, verstecken sich Ilse und Werner bei Bekannten. Sie gehen nicht mehr zur Arbeit, sie legen den Judenstern ab und vergraben ihre Pässe.

Weil sie keine Lebensmittelmarken mehr bekommen, suchen sie Handlanger-Arbeiten. Bezahlt wird mit Naturalien. Ilse arbeitet illegal in einer Wäscherei, dort firmiert sie als „Frau Röttgen“. Werner muss mehrfach neue Verstecke finden, weil die alten unsicher geworden sind. Auch die Straßenkontrollen nehmen zu. Ilse und Werner brauchen falsche Pässe. Ein Reichsbahninspektor besorgt ihnen Vordrucke und die Daten des Hilfsrottenführers Erich Treptow …

Erzählt hat Ilse ihre traurige Geschichte nur, weil sie ein glückliches Ende fand und wegen der vielen guten Menschen, die darin vorkommen. Mit dem Reichsbahninspektor blieb sie ein Leben lang befreundet. Noch enger war das Verhältnis zum Komponisten Hanning Schröder. Der nahm Ilse und Werner in sein Haus am Schlachtensee auf: Selbst als ein nazitreuer Offizier einquartiert wird, schickt er seine Gäste nicht fort. Ständig müssen sie auf der Hut sein vor harmlosen Fragen des ahnungslosen Offiziers: „Haben Sie heute nicht Geburtstag, Frau Treptow? Warum kommen denn gar keine Glückwunschkarten?“

Als Hanning Schröder zum Volkssturm soll, geht Ilse zur NSDAP-Kreisleitung, gibt sich als Sekretärin der Ufa aus, bei der Schröder angestellt ist, und legt ein Schreiben der Orchesterleitung auf den Tisch. Darin steht, der Solobratscher Schröder müsse für kulturpolitisch wichtige Filmaufnahmen vom Wehrdienst freigestellt werden. Das wirkt.

Nach der Befreiung bleiben Ilse und Werner in Berlin. Es waren ja Berliner, die ihnen das Leben gerettet haben. Ganz in der Nähe der Schröders werden sie sich später ein Haus kaufen. Von der Familie ist nur Ilses Bruder noch am Leben - er war rechtzeitig nach London gegangen. Nachts hat Ilse manchmal Albträume, aber die Tage öffnen sich nur zur Gegenwart. Sie verspürt unbändige Lebenslust. Es ist so viel nachzuholen.

Stolpersteine zum Gedenken haben sie im vergangenen Sommer verlegt, dort, wo Ilse früher mit ihrer Familie wohnte. Bei ihren Recherchen entdeckten Freunde auch das Sammelgrab in Riga, in dem ihre Mutter liegt. Ilse war froh zu wissen, dass es einen letzten Ort für ihre Mutter gibt, die sie so lange vermisst hatte. Um hinzufahren, war sie schon zu schwach. Sie hatte Lungenkrebs.

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