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Wirtschaft: IM INTERVIEW: Ein Land mit zwei Geschwindigkeiten

Konzernchef von Pierer: Die Politik hält mit dem Tempo der Wirtschaft nicht mit TAGESSPIEGEL: Herr von Pierer, was sagen Sie als Kanzlerberater und -freund zu den Reformbemühungen der Bundesregierung? VON PIERER: Deutschland hat derzeit einige Probleme im Land zu lösen.

Konzernchef von Pierer: Die Politik hält mit dem Tempo der Wirtschaft nicht mit

TAGESSPIEGEL: Herr von Pierer, was sagen Sie als Kanzlerberater und -freund zu den Reformbemühungen der Bundesregierung? VON PIERER: Deutschland hat derzeit einige Probleme im Land zu lösen.Um vernünftige Arbeit zu leisten, besitzt die Regierung aber nur eingeschränkte Möglichkeiten.Anders als etwa Tony Blair in Großbritannien, kann unsere Regierung nicht uneingeschränkt walten wie sie will.Ich will den Föderalismus nicht grundsätzlich in Frage stellen.Er hat sicher seine guten Seiten, aber man darf nicht übersehen, daß derzeit Parteiinteressen vor die Interessen des Gesamtstaates gesetzt werden.Das ist wohl unser größtes Problem. TAGESSPIEGEL: Sie haben am Sonntag mit Gerhard Schröder und Lothar Späth über den Reformstau in Deutschland gesprochen.Wenn Sie der Überzeugung sind, daß die Parteipolitik die Auflösung dieses Reformstaus zur Zeit behindert, was kann dann die Wirtschaft noch dagegen tun? VON PIERER: Nur wenig, aber sie kann ihre Stimme erheben und Argumente vortragen.Und das muß sie, schließlich wurde uns ein Jahrhundertwerk versprochen; was übriggeblieben ist, kann ich gar nicht erkennen. TAGESSPIEGEL: Der Bundeswirtschaftsminister hat dieser Tage eine recht positive Bilanz des 50-Punkte-Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung vorgelegt.Was halten Sie davon? VON PIERER: Es ist richtig, daß die Bundesregierung eine ganze Reihe wichtiger Vorhaben zugunsten der Wirtschaft umgesetzt hat; beispielsweise auch für die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer gesorgt hat.Über die Gegenfinanzierung freilich müssen wir wohl noch reden; so wie wir auch noch über andere Dinge reden müssen, etwa über Steuern, Renten und die Gesundheitsreform.Da ist wirklich herzlich wenig geschehen. TAGESSPIEGEL: Norbert Blüm behauptet, es gebe gar keinen Reformstau, sondern nur einen Umsetzungsstau.Er meint, die Wirtschaft habe die Möglichkeiten, die der Gesetzgeber ihr an die Hand gegeben hat, überhaupt nicht genutzt.Stimmt das? VON PIERER: Da müßte man wohl konkret nachfragen, was Herr Blüm damit meint.Die Gesetzesänderung zur Lohnfortzahlung war sicher keines der Bonner Kapitel, die ich als besonders erfolgreich bezeichnen würde.Allerdings haben uns die letzten Tarifverhandlungen tatsächlich Kostenentlastungen gebracht, wenngleich auf anderen Kostenstellen.Aber von der Neuerung beim Kündigungsschutz profitieren wir als Großunternehmen nun wirklich nicht, falls Herr Blüm auch darauf hinweisen sollte. TAGESSPIEGEL: Sie sagen, die entscheidenden Reformbemühungen, die eine Senkung der Lohnnebenkosten bewirkt hätten, wurden nicht umgesetzt.Wie bedeutsam sind die vergleichsweise hohen Lohnnebenkosten für Investitionsentscheidungen des Weltkonzerns Siemens? VON PIERER: Um es klar zu sagen: Die Steuerreform ist für uns das Kernthema.Es besitzt keine geringe Symbolkraft und ist geradezu ein Symbol für die Reformfähigkeit Deutschlands.Das sehen übrigens nicht nur die ansässigen deutschen Firmen so, sondern vielmehr auch die ausländischen Unternehmen, die sich die Frage stellen, wo sie sich am besten engagieren.Und wir wissen ja alle, daß es 1996 nicht gerade zu einem Boom von Auslandsinvestitionen in Deutschland gekommen ist; netto gab es sogar einen Abzug von Kapital.Das ist doch ein ganz besorgniserregender Umstand. TAGESSPIEGEL: Was müßte sich am Standort Deutschland ändern, damit es für ausländische Unternehmen wieder interessanter wird, hier zu investieren?. VON PIERER: Nach drei Jahren Stagnation rechnen wir zur Zeit wieder mit einer Konjunkturbelebung.Trotzdem werden wir im Inland davon nur wenig spüren.Auch unser Geschäft profitiert von den entscheidenden Impulsen aus dem Ausland.Es ist unübersehbar, daß sich die Gewichte hier verschieben.Noch vor fünf Jahren erwirtschaftete der Siemens-Konzern die Hälfte im Ausland und die Hälfte im Inland.Heute zeichnet sich ein Verhältnis von 70 zu 30 Prozent ab.Das sind dramatische Veränderungen in kurzer Zeit.Sie sind aber unabdingbar.Was muß nun passieren, damit auch von Deutschland wieder mehr Impulse ausgehen? Schaun Sie, der Karl Valentin hat mal gesagt, es ist alles gesagt, nur noch nicht von allen.Wir können sagen: es ist alles gesagt und beinahe von allem alles gesagt.Nun, es muß sich vieles gleichzeitig verändern; bei den Sozialversicherungssystemen, in der Ausbildung und natürlich im Verhältnis von Arbeitgeber zu Arbeitnehmer, im Verhältnis von Gewerkschaften zu Arbeitgeberorganisationen.Ich persönlich finde es als ein Muß, den Flächentarifvertrag zu reformieren.Aber es ist wohl auch ganz entscheidend, daß die Firmen umdenken - und zwar schnell.Ich finde: Wir sind ein Land zweier Geschwindigkeiten geworden.Die Unternehmen, die es noch gibt, können von sich behaupten, dem wachsenden Druck der Globalisierung standgehalten, ihre Chancen genutzt zu haben.Beim Staat hingegen bewegen sich die Dinge zu langsam. TAGESSPIEGEL: Heißt das, die Politik blockiert den Fortschritt? VON PIERER: Ja, zumindest bewegt sich die Politik nicht im gleichen Tempo wie sich die Wirtschaft bewegt hat. TAGESSPIEGEL: Bleiben wir bei der Steuerreform.Es wird immer so viel über die deutschen Spitzensteuersätze diskutiert.Aber die zahlt doch kein Mensch.Finden Sie diese Debatte nicht scheinheilig? VON PIERER: Ich finde es auch nicht richtig, den Spitzensteuersatz ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung zu stellen.Aber es ist logisch, durch das Schließen der zahlreichen Steuerschlupflöcher die Steuerbasis verbreitern zu wollen.Dann kann man auch den Spitzensteuersatz senken.Man muß ihn auch senken im internationalen Vergleich.Auch der, der vermeiden will, daß Einkommensmillionäre nur wenig oder gar keine Steuern zahlen, muß diesen Weg gehen.Würden wir im Unternehmen uns unserern Erkenntnissen derart verweigern, wie es derzeit die Politik tut, würde der Konkursrichter kommen. TAGESSPIEGEL: Wissen Sie, wieviel Steuern Sie im letzten Geschäftsjahr gezahlt haben? VON PIERER: Ich weiß, daß unsere Steuern in Deutschland im letzten Geschäftsjahr relativ gering waren, aber bereits höher als im Jahr davor, und sie werden in diesem Jahr erneut deutlich höher sein.Wir haben im übrigen so wenig gezahlt, weil wir das Unternehmen Nixdorf mit immensen Vorleistungen aufgenommen haben.Im übrigen zahlen wir dort Steuern, wo wir arbeiten und wir arbeiten zunehmend im Ausland.Aber, um es gleich vorwegzunehmen: Siemens mit seiner ganzen Belegschaft hat immerhin zuletzt zehn Milliarden DM Steuern und Sozialbeiträge bezahlt.Das ist doch beachtlich, oder nicht? TAGESSPIEGEL: Sie sagen es selber.Auch der Weltkonzern Siemens arbeitet immer stärker im Ausland.Geht das alles noch in die richtige Richtung? Ist ein Ende der Verlagerung absehbar? VON PIERER: Also zunächst einmal sind wir sehr stolz auf jeden Arbeitsplatz, den wir in Deutschland halten können und auf den, den wir neu schaffen können.Und das gibt es ja auch.In Dresden zum Beispiel haben wir in der Chipfabrik mehr Arbeitsplätze einrichten können als wir ursprünglich geplant haben und in Berlin gibt es auch teilweise mehr Beschäftigung.Wir suchen zum Beispiel nach wie vor für den Bereich öffentliche Nachrichtentechnik 100 qualifizierte Entwickler.Wer sich in der Branche umsieht, erkennt unschwer, daß Siemens mit etwa 200 000 Mitarbeitern in Deutschland ein Unternehmen ist, daß sich in Deutschland nach wie vor wohlfühlt.Natürlich denken wir auch darüber nach, was wir innerhalb Deutschlands ausgliedern können.Outsourcing spielt auch bei uns eine immer größere Rolle.Manche Arbeitsplätze existieren also weiter - nur nicht auf dem Siemens-Konto. TAGESSPIEGEL: Wie aber geht es weiter? Welche Chance hat Deutschland im globalen Dorf? Bleibt die Politik, wie Ex-Bundespräsident von Weizsäcker es formuliert hat, am Ende mit dem Volk allein? VON PIERER: Die Industrie muß sich den Märkten anpassen.Wer nicht agiert, kann in Zukunft nicht mehr reagieren.In der Politik hingegen kann der Wähler darüber entscheiden, wem er am ehesten zutraut, auf die Veränderungen zu reagieren.Welche Zukunft Deutschland hat? Es ist klar, daß die Arbeitsplätze in der Industrie weiter abgebaut werden.Das hat weniger mit dem Standort Deutschland als vielmehr auch mit dem Weltmarkt zu tun und den branchenbedingten Gegebenheiten.So sinkt die Wertschöpfung in der Elektronik kontinuierlich, folglich sinkt auch die Zahl der Beschäftigten.Durch Wachstum kann man das nicht vollständig kompensieren.Andererseits brauchen wir mehr Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor.Auch Siemens muß diesen Prozeß der Umstrukturierung bewältigen. TAGESSPIEGEL: Ist die deutsche Publikumsgesellschaft schon an sich ein Widerspruch in sich? Wie kann Siemens gleichzeitig seinen Aktionären und seinen Mitarbeitern gleichermaßen gerecht werden? VON PIERER: Wenn ich mir die Entwicklung des Aktienkurses in den letzten Monaten anschaue, glaube ich, daß die Aktionäre unseren Weg mitgehen.Wir haben klare Vorstellungen davon, wie wir dieses Unternehmen auf die Erfordernisse des nächsten Jahrhunderts ausrichten.Und das bedeutet nicht nur höhere Produktivität, das heißt auch wachsen, wo Wachstum vorhanden ist.Und dieses Konzept wird am Ende auch unseren Beschäftigten nützen.Denn erst sichere Arbeitsplätze macht Aktionäre und Beschäftigte zufrieden. TAGESSPIEGEL: Was halten Sie von dem Bemühungen in Europa, mit einer Sozialcharta Schlimmers auf dem Arbeitsmarkt verhindern zu wollen? VON PIERER: Das ist so, wie wenn sich einer mitten in den Rhein stellt und mit bloßen Händen den Rhein aufhalten will.So kommt mir das jedenfalls immer vor, wenn jemand den Globalisierungsdruck aufhalten will.Internationale Vereinbarungen können den internationalen Anpassungsdruck nicht eleminieren.Das ist eine Illusion.Vielleicht würde eine Absprache mit Frankreich noch funktionieren, aber mit Amerika oder Asien? Die würden überhaupt nicht verstehen, wovon die Rede ist. Das Gespräch führten Gerd Appenzeller und Martina Ohm

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