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Mensch und Markt. Anleger entscheiden selten vollständig rational. Meist sind Hoffnungen, Ängste und die Gier im Spiel. Foto: Reuters

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Wirtschaft: Im Stresstest

Wie Börsenpsychologen die Turbulenzen am Aktienmarkt erklären

Die Ereignisse der vergangenen sechs Börsenwochen könnten Eingang finden in ein Lehrbuch der Börsenpsychologie. Schon lange haben Wissenschaftler belegt, dass die Akteure an den Finanzmärkten weit entfernt sind von jedem rationalen Handeln. Was sie leitet und lenkt, sind nicht (nur) die nackten Zahlen und Bilanzen, sondern eher Gier, Hoffnung oder, wie zuletzt, Angst und Panik, mit kurzen Phasen neuen Mutes und neuer Zuversicht.

Hinzu komme eine selektive Wahrnehmung, sagt Joachim Goldberg, Finanzmarktanalyst und Börsenpsychologe von Cognitrend. Das bedeutet: Alle Anleger, ob Profis oder Laien, blenden jene Informationen aus, die ihrem eigenen Engagement widersprechen. Dies gelte, sagt Goldberg, nicht nur für die Informationsaufnahme, sondern auch umgekehrt für die Weitergabe von Informationen. Wer beispielsweise jüngst Gold gekauft habe, werde Prognosen über baldige Kursverluste für weniger bedeutsam halten als Prognosen, die einen Anstieg auf über 2000 Dollar je Feinunze vorhersagten.

Auch die jüngste Krisenlüsternheit und verstärkte Angstrhetorik seien mit Hilfe der Börsenpsychologie zu erklären, weiß Goldberg. „Solche Argumentation hört man von denjenigen, die während der vergangenen Wochen in höchster Not ihre Aktienbestände verkauft haben und dafür eine andere Rechtfertigung benötigen als ,Ich habe die Nerven verloren’ oder ,Ich bin ausgestoppt worden’.“ Es höre sich einfach besser an, wenn man für die Verkäufe fundamentale, ökonomische Gründe benenne.

Umgekehrt waren zu Beginn des Abwärtstaumels häufig besänftigende Worte und Aufmunterungen zum Kauf von Aktien auf verbilligtem Niveau zu hören: Nach Meinung von Börsenpsychologe Goldberg stehen dahinter „jene, deren Positionen im Minus liegen, jedoch nicht handeln wollen, statt dessen aber dauernd erklären, warum der Markt nicht dort ist, wo er sein sollte“. Sie stünden unter Rechtfertigungsdruck. Den Gewinnern hingegen seien die ökonomischen Daten ziemlich egal, wichtig seien nur die Gewinne. Gut gefahren wäre ein Anleger also, wenn er am Anfang des Crashs gegen die Masse der Verlierer gesetzt hätte, also gegen jene, die nicht verkaufen wollten oder konnten, den Markt folglich mit ökonomischen Argumenten gegen den Ausverkauf überschwemmten.

Dass auch sie mittlerweile die Notbremse gezogen haben, folglich viele Marktteilnehmer am Seitenaus stehen, könnte sich in den zarten Erholungsversuchen des Marktes der letzten Tage widerspiegeln. Am Mittwochnachmittag schob sich der Dax wieder über die Marke von 5600 Punkten vor. Auch andere europäische Börsen sowie die großen US-Indizes tendierten wieder fester. Marktkenner verweisen hier auf die Hoffnung der Börsen, die amerikanische Notenbank könnte ein neues, drittes, noch gewaltigeres Programm zur Konjunkturförderung ankündigen (Quantitative Easing III) . Es sind also Hoffnungen, die Käufe stimulieren. Sollten sie enttäuscht werden, könnte die Stimmung wieder kippen.

Goldberg hält es auch für „fraglich, ob die Käufe, die wir jetzt sehen, lange Bestand haben“. Schnäppchenkäufe auf diesem Level seien sehr riskant. Zwar registrierten Börsenpsychologen in allen zurückliegenden Marktverwerfungen, dass der Pessimismus zwar zunächst extrem ansteigt, nach einiger Zeit jedoch ein Gewöhnungseffekt eintritt. Negative Nachrichten werden dann nicht mehr als bedrohlich wahrgenommen, positive nicht mehr in negative umgedeutet. Dieser Punkt, gibt Goldberg zu bedenken, sei jedoch noch nicht erreicht. „Das kann noch drei bis vier Monate dauern.“ Dass andere Marktteilnehmer dagegen zur Schnäppchenjagd raten, bedeutet umgekehrt nichts anderes als dass sie schon gekauft haben, folglich an steigenden Märkte glauben (müssen).

Dass der rasante Abwärtstaumel – der Dax hat fast 2000 Punkte verloren – die Märkte ohne konkreten Anlass wie aus dem Nichts überfallen hat, gibt indes auch den alten Hasen zu denken. Jens Ehrhardt, seit 40 Jahren als Investor und Vermögensverwalter aktiv, hält die zurückliegenden Wochen für die schwierigste und undurchsichtigste Phase seines Lebens. Der Aktienanteil in seinem defensiven Fonds sei auf 25 Prozent zurückgefahren. Auch Goldberg sekundiert: „Ich bin seit Ende der Siebziger Jahre als Händler und Analyst tätig, aber solche dichten Einschläge wie zuletzt habe ich noch nicht erlebt.“

Dass die Ausschläge der Börsen seit dem Jahr 2000 insgesamt immer öfter kommen und immer stärker ausfallen, die alte Strategie des Buy and hold („kaufen und halten“) also nicht mehr funktioniert, hat in den letzten Jahren auch immer mehr Kleinanleger, die nicht schnelle Gewinne, sondern Stabilität suchen, endgültig von der Börsen vertrieben. Goldberg sieht die Ursache dafür in dem Trend, das Geld immer öfter mit immer höheren Hebeln einzusetzen, womit ein Marktteilnehmer ein Vielfaches seines realen Vermögens bewegen könne. Wer die Schlagzahl der Börsen- Loopings begrenzen wolle, müsse deshalb hier ansetzen, „die Hebel begrenzen und wieder mehr an den realen Werten handeln“.

Gelinge dies nicht auf internationalem Level, bleibe der einzige Rat an die Anleger: „Überlegt Euch bereits vor dem Kauf einen Notfallplan für den Fall, dass sich der Markt anders entwickelt als geplant.“ Eine Faustregel ist hier: Die erhofften Gewinne müssen drei Mal höher sein als die Verluste, die man zu tragen bereit ist. Wer einer Aktie also 60 Euro Plus zutraut, sollte bei 20 Euro Minus eine Grenze (einen Stopploss) einziehen. Denn sonst schlägt wieder die Psychologie zu: Wer bereits investiert ist, hat keine neutrale Sicht mehr, wird also alle Informationen so filtern, dass sie das eigene Investment rechtfertigen. Zudem schätzt der Anleger Verluste zweieinhalb mal gravierender ein als Gewinne, neigt auch zur „Overconfidence“, zur Selbstüberschätzung. Er wird Verluste also nicht freiwillig realisieren wollen.

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