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Architektur: Glänzende Aussichten

Glas hat sich zum Hightechbaustoff gewandelt. Architekten inspiriert das zu Bauwerken mit grenzenlosem Durchblick.

Wohnen, Kochen, Essen, Schlafen in totaler Transparenz. Keine echte Grenze mehr zwischen dem Privaten und dem öffentlichen Raum. Gibt es Menschen, die bewusst und gerne so wohnen? Es gibt sie. Einer von ihnen heißt Werner Sobek, seines Zeichens Stararchitekt und Besitzer eines perfekten Glashauses. „R 128“ heißt sein Wohnhaus in Stuttgart: ein allseitig gläserner Würfel auf vier Etagen, der – mit Ausnahme der Toiletten – komplett ohne Innenwände, Wände, ohne Putz und Estrich, ohne Türklinken, Lichtschalter, Vorhänge und Fußleisten auskommt. Sobeks Bau ist nicht von fremder Energie abhängig, vollständig emissionsfrei und lässt sich komplett recyceln. Dazu versüßt ihr Haus den Sobeks den Alltag mit Hightech, gesteuert per Sprache und Touchscreen. Im Glashaus lebt die Familie nach außen, puristisch mit wenig Mobiliar und ist sowohl neugierigen Blicken als auch Wetterkapriolen ausgesetzt. Er schätze den permanenten direkten, nur durch die Glashaut unterbrochenen Dialog mit der Außenwelt, sagt Sobek, der neben einem Architekturbüro auch das Stuttgarter Institut für Leichte Flächentragwerke leitet – ebenso wie die Tatsache, dass er den Briefträger schon von Weitem kommen sieht.

Schöner Wohnen in Glas

So radikal wie in Stuttgart wird der älteste künstlich von Menschen geschaffene Werkstoff im Wohnbereich nur selten eingesetzt. Aber mit Glas geht viel mehr, als es den Anschein hat: Im niederländischen Woerden etwa hat der Architekt Dirk Jan Postel ein Wohnhaus geschaffen, bei dem das Material als tragendes, konstruktives Element der Außenwände eingesetzt wird, um den Blick nach draußen nicht durch Stützen, Verstrebungen oder Rahmen zu stören. Nichts als Glas zwischen Wohn- und Straßenraum. Auch im französischen Avallon, mitten in der Natur Burgunds, baute Postel ein Haus, den „Temple de L’Amour“, der die Grenzen zwischen innen und außen verschwimmen lässt. Nahtlose, gerade mal einen Zentimeter dicke Glaswände, die das zwei Tonnen schwere Dach tragen, gestatten eine atemberaubende Aussicht. Verschiebbare Wände aus Eichenholz bieten dagegen in einem Glashaus in Dießen am bayerischen Ammersee die Möglichkeit, Privates im Inneren nach außen abzuschotten. Meist ist dies jedoch nicht nötig: Die Bauherrin, eine Künstlerin, wollte ein Wohn- und Arbeitsambiente, das sich unauffällig in die umgebende Wiese einpasst und dabei die Lichtverhältnisse von außen ins Haus holt. Ganz anders löste das niederländische Architektenbüro Kruunenberg das Transparenzproblem: Bei dem von ihm entworfenen Glashaus „Laminata“ in Leerdam werden je nach Blickwinkel des Betrachters die 13 000 flächig gegeneinander verleimten Glasplatten trüb oder durchsichtig: Trifft der Blick schräg auf eine Wand, ist sie ein eisgrüner undurchsichtiger Block, nur bei frontaler Perspektive wird sie transparent. Verbaut wurden 80 Kubikmeter Glas, was bei konventioneller Planung für mehr als 800 normale Einfamilienhäuser gereicht hätte. „Laminata“ wiegt 650 Tonnen und ruht auf 150 Pfählen. Tausende von Bewegungsfugen halten den Glaspanzer flexibel.

Aber auch von vielen ganz normalen Bauherren wird Glas gern als Baustoff eingesetzt, wenn auch nicht so extrem wie in den genannten Beispielen. Das zeigen die Wohnbeispiele, die Paul Daleiden in dem jüngst erschienenen Buch „Häuser aus Glas“ zusammengetragen hat. Wandhoch offen nach allen Seiten sind sogar Fertighäuser, etwa von Huf-Haus und Da Vinci. Die modernen Fachwerkhäuser, bei denen Glasflächen ein Holzskelett ausfüllen, lassen die Eingangsseite weitgehend verschlossen, das Innenleben verborgen, dafür öffnet sich der Wohnbereich der Umgebung voll und ganz. Auch Schwörer oder Bien-Zenker haben Ähnliches im Angebot.

Musterbeispiel Berliner Hauptbahnhof

In Gänze wird aber vor allem bei öffentlichen Bauten und Gewerbeimmobilien deutlich, was mit dem Baumaterial Glas alles technisch möglich ist – nicht nur beim Berliner Hauptbahnhof. An der Elbe in Hamburg wurde zum Beispiel im April der Grundstein gelegt für ein Konzerthaus der Superlative, die Elbphilharmonie: Das Schweizer Architektenduo Herzog und Le Meuron plant dabei auf einem bestehenden Kaispeicher am Hafen einen grandios schillernden, wellenförmigen Aufsatz aus Glas, dessen Oberflächen unterschiedlich verformt sind und der, je nach persönlichem Eindruck, wie Riesenwellen oder wie ein herannahendes Schiff aussieht. Herzog und Le Meuron bauen auch an einer Erweiterung der Kunstgalerie Tate Modern in London. Bisher nur in Computersimulation zu sehen, wird das Museum bis zu den Olympischen Spielen 2012 eine 70 Meter hohe gläserne Pyramide erhalten. Die Stärken des Glases auf andere Art ausgelotet haben die Erbauer des Skywalks, einer gläsernen, gerade mal vier Zentimeter dicken Aussichtsplattform 1200 Meter über dem Tal des Grand Canyons.

Werner Sobek arbeitet indes schon an noch Innovativerem für den Wohnbereich. Projekt R 129, das Haus, das einmal neben seinem eigenen in der Stuttgarter Römerstraße stehen soll, wird einem Tautropfen oder einer Linse ähneln, ohne jedes Fundament auskommen und innen Wohnmodule enthalten, die sich komplett versetzen lassen. Die Außenhaut bleibt zwar transparent, doch soll es diesmal zumindest eine Möglichkeit des Sichtschutzes geben. Einer Hülle aus superleichtem Kunststoff wird eine metallische Schicht aufgedampft, die auf elektrische Spannung reagiert und die den Komplex so vor Sonne oder neugierigen Blicken schützen kann.

Veronika Csizi

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