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Shopping-Erlebnisse der besonderen Art sollen dem stationären Handel wieder auf die Beine helfen. Diesen Frauen würde es bereits reichen, wenn ihnen ein Gepäckträger-Service unter die Arme greifen könnte.

© Bodo Marks/dpa

Gewerbeimmobilien: Aus Geschäften werden Abholstationen

"Retail Report 2016": Kulturanthropologin Janine Seitz im Gespräch über die Trends, die den stationären Handel revolutionieren.

„Erfolgreich handeln heißt heute und künftig: online mit offline, digital mit analog und virtuell mit lokal zu kombinieren.“ So weit, Frau Seitz, ein Lehrsatz aus Ihrem soeben erschienenen „Retail Report 2016“. Wie verträgt sich das mit einem Trend, den Sie zugleich festgestellt haben wollen: die Rückkehr zur guten alten Zeit, zur „Authentic City“? Glauben Sie wirklich an den inhabergeführten kleinen Buchladen in der Haupteinkaufsstraße mit Tee-Ecke und an den Plattenladen mit Räucherkerzen?

Der Trend zur Authentizität in den Städten äußert sich weniger in einer Rückkehr zur guten alten Zeit, sondern eher darin, dass sich globale Handelsketten in ihrem Storedesign an der lokalen Kultur vor Ort orientieren. Inhabergeführte Geschäfte in den Haupteinkaufsstraßen haben künftig nur schlechte Karten, zu überleben. Doch in 1B-Lagen bieten sich neue Chancen, wenn sie offen für aktuelle Entwicklungen sind und eben nicht vor der Digitalisierung und ihren Auswirkungen in eine Angststarre verfallen.

Gute Locations sind immer voll, schreiben Sie. Unter welchen Voraussetzungen gilt das auch für Kaufhäuser wie Karstadt?

Kaufhäuser wurden in den vergangenen Jahren heftig gebeutelt und auch ihre Zukunft gestaltet sich als schwierig. Markenhersteller wollen ihr Sortiment inzwischen lieber in hippen Flagship Stores anbieten, als auf die Kompetenz von Kaufhäusern zu vertrauen. Auf der anderen Seite werden Billiganbieter wie Primark mit ihren Großflächen-Stores zu harten Konkurrenten. Um wieder zu guten Locations zu werden, müssen Kaufhäuser ein Rundumerlebnis anbieten. Das Konzept Waren- und Kaufhaus funktioniert künftig vor allem über einen Lifestyle-Charakter: zum Beispiel indem ein Kaufhaus unterschiedliche Marken und Unternehmen unter einem Dach versammelt, die alle für einen gewissen Lebensstil stehen. Die Kombination von Retail-, Event- und Gastrokonzepten ist hierfür Voraussetzung.

Sie prognostizieren, dass die Discounter aus den Innenstädten verschwinden. Warum und was tritt an ihre Stelle?

Dass Discounter aus den Innenstädten verschwinden, ist eine langfristige Prognose. In den kommenden Jahren werden sich Lebensmittel-Discounter zunächst immer mehr den Supermärkten annähern. Das bedeutet, dass der Discount, wie wir ihn heute verstehen, von der Bildfläche verschwindet. Der Preiskampf verlagert sich immer mehr ins Internet. Ein preisorientierter stationärer Discounter ist in Zukunft als automatisiertes Fulfillment-Center – vergleichbar mit einem Amazon-Logistikzentrum – vorstellbar, in dem Kunden ihre online georderte Ware nur noch abholen müssen.

"Berlin ist ein wichtiger Seismograf für Trends"

Warum werden in den Städten immer noch mehr Einkaufscenter gebaut und eröffnet als die nach Ihrer Einschätzung so viel beliebteren Markthallen, die in den achtziger Jahren völlig out waren? Haben da Unternehmer die Zeichen der Zeit nicht erkannt?

Einkaufszentren bleiben auch in den nächsten Jahren die Tempel des schnellen Konsums. Aktuell funktionieren sie gut, aber aus unserer Sicht ist der Markt längst gesättigt. Und ohne schlüssiges Konzept können sie in eine ähnliche Krise stürzen wie bereits die Kaufhäuser. Viele Markthallen werden dagegen ja nicht neu gebaut, sondern alte Hallen revitalisiert.

Wer den Kunden heute antreffen möchte, müsse sich neue Standorte suchen, die sich stärker in den Unterwegs-Alltag des Kunden integrieren, schlagen Sie vor. Einen fixen Standort durch mobile Verkaufsmodelle zu ergänzen, zahle sich hierbei aus. So etwas ist in Berlin doch gar nicht machbar, vom Straßenrand aus zu verkaufen. Wie stellen Sie sich das vor?

Es geht bei diesen Standorten nicht zwingend um den Verkauf. Vor allem ist die Präsenz an diesen Orten wichtig. Damit können Händler eine Nähe zu ihren Kunden aufbauen: „Ich bin Teil Deiner Lebenswelt und mit den passenden Produkten oder Services zur Stelle, wenn Du sie brauchst“. Das kann ein Verkaufsautomat für Hemden und Krawatten in einem Bankgebäude oder ein Zeltsupermarkt auf einem Festival sein.

Wie sieht die nach Ihren aktuellen Erkenntnissen ideale Einkaufsstraße aus und haben Sie dafür ein Beispiel, das es schon gibt?

In der idealen Einkaufsstraße findet sich ein gesunder Mix aus internationalen Handelsketten, inhabergeführten Läden und Gastronomieangeboten. Solch ein abwechslungsreiches Angebot schafft ein individuelles Bild von Städten. Das bedeutet aber auch, dass Kommunen ihre Rolle in der Gestaltung von Einkaufsstraßen ernst nehmen müssen.

Wie gleich und wie fern sind sich mit Blick auf den Branchenmix und Eventcharakter europäische Großstädte? Oder anders gefragt: Was können wir von Oslo lernen, was von Barcelona?

Generell ist europäische Stadtkultur divergent – was in einer Stadt funktioniert, kann woanders floppen. Von Barcelona mit seinen zahlreichen Märkten, Markthallen und Boutiquen können wir lernen, die Kommunikation beim Shoppen in den Mittelpunkt zu rücken. Andererseits können durch Renovierung und Umbau alte Gebäude oder Industrieflächen in attraktive Gewerbeflächen verwandelt und somit Stadtviertel wiederbelebt werden wie zum Beispiel die Aker Brygge in Oslo.

Welche Einkaufserlebnisse verbinden Sie mit Berlin?

Berlin ist für mich ein Vorreiter in Sachen Einkaufserlebnis. Häufig wird in Berlin mit Retail-Konzepten experimentiert, die dann ihren Weg in den Mainstream finden. So ist das vor einigen Jahren geschehen mit den Pop-up-Stores, aktuell erleben wir eine regelrechte Überschwemmung mit Street-Food-Festivals beinahe in jeder deutschen Stadt. Berlin ist ein wichtiger Seismograf für Trends im Retail.

Das Interview führte Reinhart Bünger.

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