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Während Archäologen das alte Berlin freilegen, legen die Autoren des Buches „Die DNA der Stadt“ einhundert deutsche Städte auf den Röntgentisch.

© Mike Wolff

Urbanes Erbgut: Stadt, Land, Häuser, Fluss

Ein neuer Städteatlas lädt zum Stadtspaziergang mit dem Zeigefinger ein – und zur Gedankenreise.

Kurt Tucholsky hatte seine Heimatstadt bereits 1919 auf Herz und Nieren geprüft: „Berlin vereint die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt. Seine Vorzüge stehen im Baedeker.“ So lautete der unsentimentale Befund des Journalisten und Schriftstellers, veröffentlicht unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel im „Berliner Tageblatt“.

Sind dieses Sätze heute noch gültig, waren sie es je?

In seiner Satire „Berlin! Berlin!“ rieb sich Tucholsky an den Mentalitäten und räumlichen Strukturen, die er zu Zeiten der Weimarer Republik vorfand. „Manchmal sieht man Berlinerinnen auf ihren Balkons sitzen. Die sind an die steinernen Schachteln geklebt, die sie hier Häuser nennen, und da sitzen die Berlinerinnen und haben Pause.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Stadtbild im Zuge der Industrialisierung schon stark verändert, Krieg und Wiedervereinigung brachten in den folgenden Jahrzehnten neue Mentalitätsschübe und bauliche Veränderungen mit sich. Bis heute und über das Heute hinaus.

Die Spuren des Wandels sind im Stadtbild auch ohne Worte und Fotos zu finden, dem nun auch für der Allgemeinheit zugänglichen „Schwarzplan“ Berlins sei Dank. Ein neues Buch aus dem Verlag Hermann Schmidt Mainz hat unter dem Titel „Die DNA der Stadt“ einen „Atlas urbaner Strukturen in Deutschland“ zusammengestellt. Gezeigt werden die baulichen Oberflächenstrukturen von einhundert deutschen Städten.

Alles schwarz auf weiß

Städte entstehen und verändern sich nicht nur im Spannungsfeld aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Natürlich sind ihre Strukturen auch geografischen Rahmenbedingungen geschuldet. Erfahrene Stadtflaneure kennen die Erbgüter ihrer Städte von Spaziergängen: Kirchen, Schlösser, Befestigungsanlagen, Plätze, Straßen, Parks, Industrieanlagen und Wohnhäuser. Doch ist keine urbane Umtriebigkeit vonnöten, die Zeichen der Zeit zu sehen und zu deuten. Denn man kann sich die Bausteine der Stadt auch durch „Spazierengucken“ erschließen.

Vinga Mueller-Haagen, Jörn Simonsen, Lothar Többen: Die DNA der Stadt. Ein Atlas urbaner Strukturen in Deutschland. 264 Seiten mit 100 Schwarzplänen. Verlag Hermann Schmidt Mainz. 68 Euro.
Vinga Mueller-Haagen, Jörn Simonsen, Lothar Többen: Die DNA der Stadt. Ein Atlas urbaner Strukturen in Deutschland. 264 Seiten mit 100 Schwarzplänen. Verlag Hermann Schmidt Mainz. 68 Euro.

© Verlag Hermann Schmidt Mainz

Die veröffentlichten „Schwarzpläne“ zeigen in einer Art Bestandsaufnahme den heutigen Zustand urbaner Strukturen. Anders als in Stadtplänen, die den tatsächlichen Stadtgrundriss durch Vereinfachungen verzerren, zeichnen Schwarzpläne die Umrisse der exakten baulichen Strukturen schwarz auf weiß nach. Nicht dargestellt wird, was einen Stadtplan erst zu einem Stadtplan werden lässt: Straßen und Straßennamen, Ort- und Bezirksbezeichnungen, Seen und Flüsse, Stadt- und Grundstücksgrenzen, Wälder, Felder, Parks und Brachen.

So weit, so weit verständlich – doch was haben die weißen Flächen zu bedeuten? „Alles, was schwarz eingezeichnet ist, ist ein Haus – alles, was weiß ist, ist kein Haus“, sagt Coautor Jörn Simonsen. Einfacher geht es wirklich kaum. Und so ist die größte weiße Fläche im abgebildeten „Schwarzbild“ Berlins als Tiergarten zu lesen. Gehen Augen und Zeigefinger von dort aus flanieren, erklärt sich alles Weitere – mit minimalen Stadtkenntnissen – von selbst: Der Hauptbahnhof liegt in der Struktur eines verzerrten Kreuzes, der Fernsehturm auf dem Alexanderplatz gibt sich in der Formgebung eines bizarren Insektes zu erkennen, dem Umfeld der früheren Stalinallee ist eine gänzlich andere Struktur als dem benachbarten Kreuzberg eingeschrieben. Geschichte wird hier ablesbar.

Berlin etwas ganz Besonderes

Natürlich wiederholen sich die Strukturen der stets im gleichen Maßstab – 1:20 000 – abgebildeten Städte. Und doch ist Berlin etwas ganz Besonderes, nicht nur durch den Sonderfall der Geschichte als geteilte Stadt. „Berlin ist so groß, dass wir gleich zwei Seiten im Buch mit den Innenstadtzentren bedruckt haben“, sagt Simonsen. Kein Wunder, wenn die gesamte Altstadt von Regensburg in den Tiergarten passt. „Und doch ist Berlin schwer in wenige Worte zu fassen: Man sieht dem Plan einfach an, dass die deutsche Hauptstadt die deutsche Metropole ist.“ Berlin unterscheidet sich von vielen anderen Städten in der Bundesrepublik dadurch, dass es besonders viele Gebäude auch aus der Nachwendezeit gibt, die eine besondere grafische Form haben – wie zum Beispiel die Nordischen Botschaften mit einer dreieckigen Blockstruktur. Immer noch sichtbar zudem: die Kriegsschäden in Form von Freiflächen.

Das Instrument des Schwarzplanes wurde von Stadtplanern in Berlin intensiv zur Analyse und Begründung von Maßnahmen zur Stadtreparatur eingesetzt: Vor der Wende ging es um die „Behutsame Stadterneuerung“ im Altbau und um die „Kritische Rekonstruktion“ im Neubau. Nach der Wende wurde das „Planwerk Innenstadt“ kontrovers diskutiert – es ging und geht um das Zusammenwachsen der Stadt Berlin auf der Grundlage historischer Schichten. Im Tiergartenviertel ist der historische Grundriss der Stadt Vorbild für die Neubebauungen – angefangen bei den Stadtvillen der Internationalen Bauausstellung 1984 am Tiergarten über das Botschaftsviertel zwischen Nordischen Botschaften und dem Konrad-Adenauer-Haus bis zum östlich gelegenen „Köbis-Dreieck“.

Ob es nun beim Blick auf den „Schwarzplan“ schwerfällt oder nicht, Berlin als traditions- und stilloses Stadtgebilde zu bezeichnen, wie dies der Kunstkritiker und Publizist Karl Scheffer 1910 in seiner Polemik „Berlin – ein Stadtschicksal“ getan hat, so ist doch Scheffers Schlusswort uneingeschränkt wahr: Die Stadt sei dazu verdammt, „immerfort zu werden und niemals zu sein“.

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