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Wirtschaft: In der Loyalitäts-Falle

Betty Vinson hat dem Telekom-Konzern Worldcom immer treu gedient – auch, als sie Bilanzen fälschen musste

Betty Vinson ist eine ordentliche Person. An ihrem Kühlschrank hängt eine Einkaufsliste für den Wal-Mart und eine Einkaufsliste für das Lebensmittelgeschäft. Die Tochter eines Schreibmaschinenverkäufers führt auch eine Liste, wann sie welche Kleidung getragen hat, damit sie im Büro nicht zu oft mit dem gleichen Outfit erscheint.

1996 begann Vinson, in der Buchhaltung eines kleinen Telekommunikationsunternehmens zu arbeiten. Fünf Jahre später nahm ihr solides Berufsleben plötzlich eine unschöne Wende, die im vergangenen Jahr zu einer Katastrophe führte: Die 47-Jährige muss sich vor Gericht wegen Wertpapierbetrug und Verschwörung zur Verschleierung von Firmenausgaben verantworten. Die Höchststrafe dafür sind 15 Jahre Gefängnis. Vinson bereitet ihre zwölfjährige Tochter darauf vor, dass ihre Mutter vielleicht hinter Gitter muss.

Vinson arbeitete beim Telekommunikationskonzern Worldcom, der im vergangenen Jahr wegen Bilanzfälschung in die Schlagzeilen geriet und Gläubigerschutz beantragen musste. Der Konzern hat seine Bilanzen um elf Milliarden Dollar aufgeblasen – der größte Bilanzbetrug in der US-Geschichte. Am Anfang widersetzte sich Vinson noch den Anordnungen ihrer Vorgesetzten und weigerte sich, falsche Buchungen zu machen. Dann fügte sie sich. Eineinhalb Jahre lang fälschte sie auf Geheiß ihrer Bosse die Unternehmensbilanzen, damit der Gewinn höher aussah, als er in Wirklichkeit war. Jedes Mal hatte Vinson Angst. Jedes Mal hoffte sie, es wäre das letzte Mal. Innerhalb von 18 Monaten hat sie den Gewinn um mindestens 3,7 Milliarden Dollar geschönt. Öffentlich wollte sich Vinson nicht über Worldcom oder ihren Prozess äußern.

Als Vinson bei Worldcom anfing, war das Unternehmen ein kleiner Anbieter von Ferngesprächen. Im allgemeinen Telekommunikationsboom entwickelte er sich zum Börsenliebling. Vinson galt als loyale Mitarbeiterin, die „alles tut, was man ihr sagt“, berichtet ein früherer Kollege. Nach zwei Jahren belohnte der Konzern ihren Arbeitseifer mit einer Beförderung. Vinson arbeitete nun mit zehn Untergebenen an der Erstellung der Worldcom-Quartalszahlen mit. Sie analysierte die Betriebsausgaben und Rückstellungen für Verluste. Ihr unmittelbarer Vorgesetzter war der Direktor der Hauptbuchhaltung, Buford Yates. Für Yates arbeitete außerdem Troy Normand, der für die Prüfung der Fixkosten zuständig war.

Schwerer Schlag

Vinsons Arbeitsleben änderte sich im Sommer 2000. Die Telekommunikationsbranche geriet in eine schwere Krise. Konzernchef Bernard Ebbers gab im Juli bekannt, das Unternehmen werde in der zweiten Jahreshälfte die Markterwartungen verfehlen. Die Warnung stellte sich als zu milde heraus: Die gewaltigen Kosten für die Telefonkabelnetze verschlangen einen immer größeren Anteil der Worldcom-Einnahmen.

Im dritten Quartal 2000 erlitt Worldcom einen schweren Schlag: Der Konzern musste 685 Millionen Dollar abschreiben. Einige seiner kleineren Kunden hatten aufgegeben. Die Mitarbeiter des Worldcom-Rechnungswesens kämpften nun mit aller Macht darum, die Ausgaben auf dem Papier soweit zu mindern, dass die Quartalszahlen die Markterwartungen erfüllten. Vinson, Normand und Yates gelang es nur, 50 Millionen Dollar zusammenzukratzen. Erforderlich waren hundert Millionen Dollar.

Yates rief Vinson und Normand zu sich. Er sagte, Finanzchef Sullivan und Chefbuchhalter Myers verlangten von ihnen, einen Rückstellungsposten des Geschäftsbereichs Telekommunikation anzuzapfen, heißt es in Konzernkreisen. Sie sollten dem Rückstellungsposten, der unter anderem für Kabelnetzkosten gedacht war, 828 Millionen Dollar entnehmen und für andere Ausgaben verwenden. Die Folge: Die Kosten im Quartal würden sinken und der Gewinn höher ausfallen. Vinson und Normand waren schockiert. Sie sagten ihrem Chef, die Umbuchung sei nicht korrekt. Yates erwiderte, auch er sei darüber nicht glücklich. Aber Myers habe ihm versichert, es würde nie wieder vorkommen.

Vinson plagten heftige Gewissensbisse. Am 26. Oktober 2000, als das Unternehmen die Quartalszahlen veröffentlichte, sagte sie Yates, sie werde kündigen, überlegte es sich aber doch anders. Sie hatte Angst, mit ihren 47 Jahren keinen neuen Job zu finden. Im März 2001war klar, dass Vinson wieder einen negativen Quartalsbericht würde verfassen müssen. Da die Unternehmenseinnahmen schrumpften, stieg der Anteil der Netzkosten weit über die angestrebten 42 Prozent. Als die Situation immer ernster wurde, habe der Worldcom-Finanzchef Sullivan eine beunruhigende Lösung vorgeschlagen, sagt ein früherer Worldcom-Angestellter: Statt die Kabelnetzkosten im Quartalsbericht als Betriebsausgaben zu verbuchen, sollten 771 Millionen Dollar Netzkosten auf das Investitionsausgaben-Konto umgebucht werden, heißt es in der Anklageschrift der US-Börsenaufsicht SEC.

Bedenken ignoriert

Die Kostenumbuchung blähte den Unternehmensgewinn auf. Wieder äußerte Vinson Bedenken. Auch diese Bilanzfälschung sollte nicht die letzte sein.

Als Yates, Normand und Vinson Worldcoms Finanzplanung für 2002 besprachen, wurde ihnen klar, dass der Konzern die angestrebten Ergebnisziele nur erreichen würde, wenn die fragwürdigen Kostenumbuchungen bis mindestens Ende 2002 weiter liefen. Die drei einigten sich, keine weiteren unerlaubten Buchungen vorzunehmen und teilten das auch Buchhaltungschef Myers mit.

Dann kam der große Knall. Schon im März 2002 hatte sich die Börsenaufsicht SEC an Worldcom gewandt, weil sie an der Richtigkeit der Unternehmenszahlen zweifelte. Im Juni klopfte auch die interne Rechnungsprüfung von Worldcom an die Türen von Vinson, Yates und Normand. Sie hofften, im Prozess nur als Zeugen vernommen zu werden und der Anklagebank zu entgehen. Vergeblich. Als das Bundesjustizministerium das Verfahren dem Bundesstaat Mississippi entzog und der New Yorker Staatsanwaltschaft übertrug, gerieten Vinson, Yates und Normand selbst ins Kreuzfeuer.

Vinson erwartet ihr Urteil im Februar.

Susan Pulliam

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