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Wirtschaft: Inge Sogorski

Geb. 1935

In Berlin schrieb sie Gedichte über Beuthen, die wunderbarste Stadt der Welt. Beuthen ist eine schöne Stadt. 1933 wählten die Beuthener mehrheitlich die NSDAP. Heute heißt die Stadt Bytom. Noch immer werden Kohle und Erz abgebaut, noch immer leben viele deutschstämmige Oberschlesier dort. Und noch immer gehen die Menschen gern in dem großen Stadtpark spazieren.

Inges Vater war Bergmann, und wenn er sonntags im feinen Anzug die Kinder in den Park führte, wo es einen kleinen Zoo gab mit Bären und Affen, spendierte er ein Eis. Inge liebte ihren Vater. Und ihr Vater liebte seine Heimat. Als er aus dem russischen Arbeitslager zurückkam, blieb er mit seiner Frau in Bytom. Und ihre sechs Kinder auch. Obwohl sie es nicht einfach hatten. Deutsch durfte offiziell nicht mehr gesprochen werden. Und in der Schule ging es nicht immer gerecht zu. Aber Inge kam mit allen gut aus.

Sie war ja auch eine Adrette, und Günther, ihre Jugendliebe, ein gut aussehender Mann, und wenn sie beide Rock’n’ Roll im Wohnzimmer tanzten, fiel schon mal der Leuchter von der Decke.

Aber die Wohnung war eng, und zu kaufen gab es wenig. Günther wollte ausreisen, Inge nicht. Aber sie schwor ihm, sich darum zu kümmern. Besorgte die Formulare, füllte sie gemeinsam mit ihm aus, versprach, sie aufs Amt zu bringen, und warf sie weg. Günther wartete monatelang, füllte wieder neue Formulare aus, schickte Inge zur Post, und wartete. Irgendwann kam er dahinter. Er war Inge nicht böse. Inge gab ihm immer das Gefühl, er bestimme alles. Also war er mit allem zufrieden, im festen Glauben, ihr den richtigen Weg gezeigt zu haben. Dabei lief er ihr nur brav hinterher.

Und dann zogen sie doch nach Berlin, schon wegen der Töchter, die es besser haben sollten. Inge selbst war wieder hochschwanger, aber sie verlor das Kind, den lang erwarteten Sohn.

Im Märkischen Viertel fand die Familie eine schöne Wohnung, da saß sie dann und schrieb Gedichte über Beuthen, die wunderbarste Stadt der Welt, kleiner vielleicht, aber viel schöner als Paris. Fünf Jahre durfte sie nicht hinreisen.

Als sie wieder in die Heimat konnte, versiegte die poetische Ader auf der Stelle. Stattdessen brachte sie der Mutter und den Geschwistern Geschenke. Mehr Koffer als Finger an der Hand hatte sie, wenn sie anreiste. Und natürlich Pakete zwischendurch, einmal mit Goldring im Marzipanbrot, mitsamt Warnbrief: „Beiß da mal nich so doll rein…“

Dafür hat sie Schulden gemacht und hart gearbeitet. Erst im Imbiss, dann geputzt, dann fünfzehn Jahre lang bei Borsig in der Küche. Inge hat auch zu Hause gerne gekocht, reichlich aufgetischt für die Familie, und nicht selten saß sie dabei, aß selbst ein Butterbrot und freute sich am Appetit der anderen.

Günther starb bald nach der silbernen Hochzeit. Er hatte ein klein wenig zugenommen im Alter, und das Herz war nicht mehr so stark.

Inge war noch immer eine schöne Frau, ein bisschen rund und lebensfroh. Die Töchter schickten sie zur Kur. Dort hat sie dann einen gewissen Paul Sogorski kennen gelernt, den sie später auch geheiratet hat, ein Oberschlesier – und ein geborener Beuthener.

Als dann die Mutter nach Berlin kam, hat sie sie zu sich genommen und sie gepflegt. Und als der Bruder ausreiste, wohnte er selbstverständlich erst mal bei ihr. Da wundert es nicht, dass Paul ein wenig eifersüchtig war. Ansonsten verstanden sich die beiden gut und reisten gern nach Polen.

Inge konnte ein wenig polnisch sprechen, aber sie hatte ohnehin keine Probleme mit Fremden: „Menschen soll man in Gut und Böse teilen, nicht anders.“ Kein Nachbar, keine Nachbarin im fünfzehnstöckigen Haus, die sie nicht kannte, mit dem Bäcker war sie per Du, mit der Friseuse sowieso.

Nur ein Laster hatte sie. „Ab Weihnachten, ab Neujahr, vom Geburtstag an rauch’ ich nicht mehr.“ Das ging jahrelang so. Aber das Schicksal hat der Kettenraucherin die falsche Krankheit zugelost: ASL, die Nerven starben ab. Die Stimme versagte, die Muskulatur schwand, zuletzt blieb, als Abschied an die Familie, ein Augenzwinkern.

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