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Pflegebedürftigkeit sollte künftig nach anderen Kriterien als bisher festgestellt werden, fordert Awo-Chef Stadler.

© Alice Epp

Interview mit dem Awo-Chef: „Pflege ist ein Knochenjob“

Im Interview spricht der Chef des Awo-Bundesverbands, Wolfgang Stadler, über die Bezahlung in der Pflege, ausländische Pfleger, die Vorteile einer Bürgerversicherung und Demenz.

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Herr Stadler, als Zivildienstleistender haben Sie in der Altenhilfe gearbeitet. Jetzt sind Sie 60 Jahre alt. Was hat sich seither in der Pflege verändert?

Fast alles. Als ich Zivi war, waren das Einrichtungen mit Hotelcharakter, wo man im Regelfall seine Möbel mitbrachte und oftmals als rüstiges Ehepaar nach der Verrentung die letzte Wohnphase einleitete. Da hatte man große Gemeinschaftsräume, in denen kulturelle Veranstaltungen stattfanden, es wurden gemeinsame Reisen und andere Freizeitaktivitäten organisiert. Die Finanzierungsgrundlage war anders. Das hat sich schlagartig verändert mit der Pflegeversicherung.

Wie ist es heute?

Mir haben Heimleitungen berichtet, dass im zurückliegenden Jahr die Hälfte der Bewohner ihrer Einrichtung gestorben sei. Da habe ich einen Riesenschreck bekommen. Tatsächlich lag das Durchschnittsalter bei der Aufnahme in diesem Haus bereits bei 85 Jahren, fast alle Bewohner kamen direkt aus dem Krankenhaus, da war ein Schlaganfall oder Ähnliches vorangegangen. Die meisten Menschen möchten heute solange es geht zu Hause bleiben. Also kommen sie immer hoch betagter und in einem immer kritischeren Zustand zu uns. Entsprechend hoch ist die Intensität der Pflege. Unsere Mitarbeiter machen wirklich Schwerstarbeit.

Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hat eine schnelle Pflegereform versprochen. Was sollte die Politik als Erstes auf den Weg bringen?

Reformen sind dringend nötig. Schon in der letzten Legislaturperiode wollte man sich intensiv um die Pflege kümmern, es wurde sogar ein Jahr der Pflege ausgerufen, aber dann gab es nur diese kleine Lösung, die man als Mini-Bahr bezeichnete. Das reichte vorne und hinten nicht. Wir spüren jetzt in der Großen Koalition eine größere Bereitschaft, das Thema konsequent anzupacken.

Union und SPD wollen Pflegebedürftigkeit neu definieren. Halten Sie das für sinnvoll?

Im Unterschied zum jetzigen Begutachtungsverfahren soll der Maßstab zur Einschätzung von Pflegebedürftigkeit nicht der zeitliche Pflegeaufwand, sondern der Grad der Selbstständigkeit bei der Durchführung von Aktivitäten oder der Gestaltung von Lebensbereichen sein. Mit der jetzigen einseitig auf die körperlichen Beeinträchtigungen ausgerichteten Definition der Pflegebedürftigkeit werden zentrale Lebensbereiche und Aktivitäten, die Bedürfnisse und Bedarfe nach Zuwendung, Beaufsichtigung, Begleitung, Kommunikation und sozialer Teilhabe ausgeblendet. Der Hilfebedarf von Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen, zum Beispiel demenziell erkrankten Menschen, wird mit dem geltenden Pflegebedürftigkeitsbegriff nicht angemessen erfasst.

Der Pflegebeitrag, der jetzt bei zwei Prozent des Gehalts liegt, soll in dieser Wahlperiode schrittweise um 0,5 Prozentpunkte steigen. Reicht das Geld für eine vernünftige Pflegereform?

Auf keinen Fall. Wenn man nur bei den gesetzlich Versicherten diese Beitragserhöhung umsetzt, wird man den Pflegebedürftigkeitsbegriff nicht so umsetzen können, wie es notwendig wäre. Das zeigen unsere Gutachten. Also muss man die Einnahmenseite verbessern.

Wie denn?

Eine Bürgerversicherung wäre aus unserer Sicht die beste Lösung. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, wir haben jetzt zweieinhalb Millionen, 2030 sollen es fast doppelt so viele sein. Die Zahl derjenigen, die in die Pflegeversicherung einzahlt, sinkt. Nur eine integrierte, alle Bürger umfassende gesetzliche Pflegeversicherung und eine Beitragspflicht, die alle Einkommen erfasst, gewährleisten eine hinreichende Finanzierungsgrundlage. Dann bliebe der Beitrag nach unseren Gutachten immer noch unter drei Prozentpunkten und man kann den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff konsequent umsetzen.

Mit dem Geld soll auch mehr Personal bezahlt werden. Die Zahl der Pflegekräfte in den Heimen soll von 24 000 auf 45 000 steigen. Wird das spürbar etwas verbessern?

Mehr Personal ist immer eine Verbesserung. Das Problem ist wieder die Finanzierung: Mit der Erhöhung des Pflegebeitrags um 0,5 Prozent allein werden sich diese Personalaufstockungen auf keinen Fall finanzieren lassen, wenn noch der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff umgesetzt werden soll.

Wie viel Zeit hat im Moment ein Pfleger für einen Bedürftigen?

Das kann Ihnen niemand im Durchschnitt beantworten. Aber zu wenig. Auch, weil die Pflegekräfte unheimlich viel Papierkram erledigen müssen. Eine externe Prüfung bewertet derzeit im Zweifelsfall danach, wie sauber dokumentiert wurde, nicht danach, wie es den Betroffenen geht. Die alte Bundesregierung hatte eine Entbürokratisierungsbeauftragte eingesetzt, die mit einem Gutachten bewiesen hat, dass es enormes Entlastungspotenzial gibt. Die Pflegekräfte hätten dann mehr Zeit für die Menschen.

Die Awo betreibt deutschlandweit 2000 Heime. Ist es schwer, Personal zu finden?

Es fällt im Moment allen Trägern schwer. Der Beruf muss attraktiver werden. Es ist eine sehr harte Arbeit, die nicht angemessen bezahlt wird. Und das löst man nicht über einen Mindestlohn. Klar schadet es nicht, eine höhere Untergrenze zu schaffen, es darf nicht sein, dass jemand, der diesen Job macht, aufstocken muss.

Was muss sich ändern, damit der Pflegeberuf besser bezahlt wird?

Wir brauchen einen allgemein verbindlichen Tarifvertrag Soziales und damit auch für die Pflege. Klar ist: Die Mitarbeitenden in der sozialen Arbeit leisten eine wertvolle und anspruchsvolle Arbeit für die Gesellschaft. Der Wert dieser Arbeit spiegelt sich jedoch in der Refinanzierung oftmals nicht wider. Das führt in einem Bereich, der zu fast 80 Prozent durch Personalkosten bestimmt wird, zu einem großen Druck auf die Löhne und Gehälter. Ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag Soziales betont die Wertigkeit der sozialen Arbeit und erreicht so bessere Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden. Durch die Verbindlichkeit für alle Anbieter soll sichergestellt werden, dass kein Lohndumping mehr betrieben werden kann. Außerdem müssen wir andere Themen in den Blick nehmen: Vereinbarkeit von Pflege und Beruf, aber auch Gesundheitsvorsorge. Pflege ist ein Knochenjob. Man muss Maßnahmen ergreifen, dass auch Pflegekräfte, die älter sind, die Arbeit machen können.

Die Bundesregierung wirbt mittlerweile in Osteuropa, aber auch verstärkt in Ländern wie den Philippinen um Personal. Ist das ein Weg, günstig Pfleger zu rekrutieren?

Ich glaube nicht, dass bei der Bundesregierung die Absicht besteht, die Preise auf diese Weise zu senken. In Gesprächen mit der früheren Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, die in Richtung Philippinen aktiv war, habe ich nie diesen Eindruck gewonnen. Eins ist klar: Ausländische Kräfte müssen das Gleiche verdienen wie Deutsche, die die Arbeit machen. Die Frage ist: Was passiert, wenn die Menschen herkommen, wer organisiert das? Kommen dann irgendwelche Vermittler dazwischen, die daran verdienen wollen? Schleuser und Schlepper gar? Ich hoffe nicht, dass man um die Heime herum irgendwelche Container aufbaut und sagt: „Da wohnen jetzt unsere Pflegekräfte aus China.“ Da muss ein Integrationsprozess in Gang kommen, und der muss bei der Sprache ansetzen. Ein Mensch, der betreut werden muss, ist oft ängstlich, bekommt vielleicht auch nicht alles mehr richtig mit. Der muss verstehen können, was die Pflegekraft zu ihm sagt. Pflege hat viel mit Fachlichkeit und Kommunikation zu tun, aber auch mit menschlicher Wärme.

Von Politikern kommen häufiger Töne wie „Jeder kann pflegen“. Ist das so?

Es muss der Wunsch da sein, diese Arbeit zu machen. Schlecker geht in die Insolvenz und schon werden die Verkäuferinnen alle Altenpflegerinnen oder Erzieherinnen? Das funktioniert nicht. Das ist auch nicht fair gegenüber den zu Pflegenden. Die müssen das Gefühl haben, die Menschen machen das gerne und freiwillig. Das ist aber auch den jetzt tätigen Pflegekräften gegenüber eine unheimliche Anmaßung. Mir tut das richtig weh. Das zeigt einmal mehr, dass wir an der Wertschätzung für diesen Beruf arbeiten müssen.

Das Gespräch führten Cordula Eubel und Maris Hubschmid.

Der Chef

Wolfgang Stadler, 60, ist seit 2010 Vorsitzender des Awo-Bundesverbands. Zuvor führte er 16 Jahre lang den Awo-Bezirksverband Ostwestfalen-Lippe. Der Diplom-Soziologe wuchs in Duisburg auf, er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Der Verband

Die Arbeiterwohlfahrt wurde vor 95 Jahren als gemeinnütziger Verein gegründet; heute betreibt die Awo 2000 Heime – Altenheime, aber auch Einrichtungen für Behinderte, psychisch Kranke, Kinder und Jugendliche sowie Frauenhäuser. Die Awo hat 173 000 hauptamtliche Mitarbeiter und 70 000 ehrenamtliche Helfer.

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