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Wirtschaft: Irmgard von Malsen

Geb. 1910

Die Niederungen des Alltags lernte sie in Berlin nicht kennen. Ihr Vater schrieb nachdenkliche Gedichte. Er sprach über Musik, über Goethe und Jean Paul, nicht über Geschäfte. Die Chemiefirma, die Sprengstoff herstellte aber auch die berühmten „Schildkrötpuppen“ aus Zelluloid, das war die eine Welt. Die Familie war eine andere. So wuchs sie auf, ganz selbstverständlich umgeben von Menschen, deren Aufgabe es war, ihr das Leben zu erleichtern - oder sie zu Höherem zu leiten: Klavierspiel, Französisch, christliche Grundwerte, Etikette. Sie hatte ein Pferd, sie spielte Tennis und Golf, sie ging ins Konzert, zu dem von ihr hochverehrten Furtwängler.

Berlin, das waren der Weg von der großen Villa in Nikolassee bis zum Opernhaus unter den Linden, die Boulevards, die Partys, der täglich verabreichte Kulturgenuss. Ihren Ehemann lernte sie auf einem Ball im Adlon kennen, einen Offizier. Sie war schon 27 und hatte es mit dem Heiraten noch immer nicht eilig – so behütet, stilvoll und mühelos war ihre bisherige Existenz gewesen. Doch der energische Conrad Freiherr von Malsen hielt sie beim Tanzen und auch danach nicht mehr los. Sie war hübsch, äußerlich zart und sehr lebendig, und , wenn man das so sagen darf, auch eine ganz gute Partie.

Sie bekommen zwei Kinder, inzwischen ist Krieg. Die resolute „Emme“ hilft ihr bei allem, was mit Haus und Kindern Mühe macht. Die junge Freifrau trägt in ihre Taschenkalender nun nicht mehr nur den Namen jedes besuchten Konzerts ein – sie protokolliert auch das Frontgeschehen: „Gestern haben wir Posen genommen.“ 1943 wird sie mit Kindern und „Emme“ nach Süddeutschland auf ein Gut von Verwandten evakuiert – doch ihr Ehemann, inzwischen auch in die Firma eingetreten, und ihre Eltern müssen im bombardierten Berlin bleiben: Die Rüstungsproduktion arbeitet auf Hochtouren. „Terrorangriffe!“ notiert sie in ihren Kalender. Plötzlich ist Berlin nur noch ein Albtraum.

Das große Haus in Süddeutschland füllt sich bis in die letzte Ecke mit Flüchtlingen und Evakuierten, und die junge Freifrau macht nun erstmals mit den Niederungen des Alltags Bekanntschaft. Sie muss keinen Hunger leiden, aber doch Brot und Butter für ihre Kinder selbst organisieren, im Chaos bestehen, später mit den amerikanischen Besatzern verhandeln, dolmetschen, das Gut verwalten. Als ihr Mann sie nach der amerikanischen Gefangenschaft wieder in die Arme nimmt, ist sie nicht mehr das verwöhntes Oberschichtenmädchen, sondern eine erwachsene Frau mit einer Portion kritischer Vernunft und einem ausgeprägten Überlebenswillen.

Sie wohnt nun mit Mann und Kindern in einem Anwesen auf einem Bergrücken am Starnberger See. Von „Kochen und dergleichen“ hält sie noch immer nichts. Dafür ist sie der Mittelpunkt des Familienlebens und eines ständig wachsenden Freundeskreises: „Pension Irmchen“ sagen die Kinder, weil ihr Zuhause Freunden offen steht, die eine Bleibe auf Zeit oder einen Rat suchen in Angelegenheiten, über die sie mit ihren Eltern nicht sprechen können. Die vornehme Dame ist sehr tolerant und schätzt das Unkonventionelle, fördert es bei anderen. Als ihr Sohn aus der Kirche austritt, sagt sie: „Lieber aus Überzeugung austreten als aus Gleichgültigkeit drin bleiben.“

„Furchtbarer Kopf“ notiert sie eines Tages in ihren Taschenkalender, da ist sie schon über 80 und lebt längst allein in dem großen Anwesen auf dem Berg. Die Tochter findet beim Besuch ein Brathähnchen im Ofen, vergessen und verschimmelt. Eine Woche hat die Mutter nur Würfelzucker gegessen. Das Kurzzeitgedächtnis verschwindet, doch Irmgard von Malsen will Haltung bewahren, nicht aus dem geliebten Haus ausziehen. Ihre Kinder, weit weg, organisieren ein Betreuungssystem und leben doch in ständiger Angst. Zwölf Jahre geht das so, bis die Tochter sie eines Tages einfach nach Berlin holt. Eine zwar von Protest begleitete aber letztlich doch glückliche Heimkehr. Denn ihr Geist ist längst weit fort gewandert, zurück in ihre Jugend. „Wo bin ich?“, fragt sie einmal verwirrt und lächelt, als die Antwort „in Berlin“ lautet. Als sie nach Sturz und Hüftoperation im Krankenhaus liegt, öffnet sie einmal die Augen. „Ich möchte aufstehen“, sagt sie, „etwas Hübsches anziehen und tanzen.“

Kirsten Wenzel

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