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Geld für Know-how. Wer die Antworten auf Günther Jauchs Fragen weiß, beweist nur, dass er Wissensbrocken wiedergeben kann. Foto: dpa

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Wirtschaft: Jenseits von Goethe und Google

Bildung ist ein Thema, bei dem jeder gerne mitstreitet. Doch wofür steht der Begriff? Und was heißt gute Allgemeinbildung? Das hängt auch vom Beruf ab, meint der Kolumnist Frank Wiebe

Das Gegenteil von Bildung ist Halbbildung. Im Zeitalter von Google, „Wer wird Millionär“ und per Mausklick zusammenkopierten Doktorarbeiten gilt das mehr denn je: Wissensbrocken und Zitate sind leicht gefunden und schnell präsentiert. Aber mit Bildung hat das nichts zu tun.

Bei all den Diskussionen über Schulen und Universitäten, „Pisa“ und „Bologna“ bleibt genau diese Frage häufig unklar: Was heißt Bildung heute? Ins Englische wird „Bildung“ mit „Education“ übersetzt. Das übersetzt man mit „Erziehung“ zurück ins Deutsche. Ein lehrreicher sprachlicher Zirkel: Es geht bei der Bildung darum, wie sich jemand verhält, nicht, was er weiß.

Wer mit Wissen glänzt, das nur aus halb verstandenen Bruchstücken besteht, dessen Fehler ist nicht, dass er zu wenig weiß. Sondern wie er damit umgeht. Wer tatsächlich „educated“ ist, glänzt dagegen nur, wenn auch Gold dahintersteckt. Genau deswegen ist das Gegenteil von Bildung die Halbbildung: Das eine ziert den Menschen, das andere ist peinlich.

Aber was muss man heute wissen, um sich mit Recht gebildet zu fühlen? Dass der Plural von Kaktus nicht Kaktanten heißt? Dass „das“ ab und zu „dass“ geschrieben wird? Ob Götz von Berlichingen in Goethes Drama von seinem Vorgesetzten „im“ oder „am“ rückwärtigen Ausgang seines Körpers geleckt werden will?

Ist all das relevant? Bevor wir diese Frage nicht geklärt haben, wird es schwierig mit jeder Bildungsreform.

Es gibt Leute, die fließend Englisch und bruchstückhaft Latein und Französisch beherrschen, ein paar Bibelzitate kennen und den „kategorischen Imperativ“ erklären können – aber an einer simplen Prozentrechnung scheitern. Oder die sich perfekt in der europäischen Literatur auskennen, aber keine Ahnung haben, wie das politische System der Bundesrepublik funktioniert oder was der Unterschied zwischen Umsatz und Gewinn ist.

Der Ansatz, Bildung nach der Summe von Wissen zu bewerten, ist falsch. Das Leben ist mehr als „Trivial pursuit“ – also den persönlichen Wissensspeicher möglichst schnell mit Häppchen aus sechs verschiedenen Gebieten zu füllen. Dieser Ansatz widerspricht ja auch der Wortbedeutung. Bildung heißt, dass jemand gebildet worden ist – woraus oder wozu auch immer. Es heißt nicht, das jemand vollgestopft worden ist – mit Wissen.

In den letzten Jahrzehnten sind die Vorstellungen, was man wissen oder können sollte als „gebildeter“ Mensch, ohnehin völlig in Unordnung geraten. Auf der einen Seite ist mit „Google“ jedes Wissen jederzeit fast überall erreichbar. Auf der anderen Seite entstehen gerade im Internet ständig neue Welten – siehe Facebook – die uns zu Deppen machen, so lange wir uns darin noch nicht auskennen. Manchmal versinken virtuelle Welten auch wieder in der Bedeutungslosigkeit – wer erinnert sich noch an „Second Life“?

Im klassischen Bereich der Bildung geht es auch rund. Die alten europäischen Sprachen verlieren an Bedeutung, gelebte Religion wird zur Sache von Minderheiten, und gleichzeitig fragt sich, ob wir nicht ansatzweise Ahnung von der Kultur unserer kulturellen Minderheiten haben sollten. Wie soll man sich in diesem Chaos noch zurechtfinden?

Hier ein Vorschlag: Bildung sollte man sich nach einem Schichtenmodell vorstellen. Eine Schicht mit dem, was jeder wissen oder können sollte. Dann eine Schicht, die für den jeweiligen Beruf und die gesellschaftliche Stellung unabdingbar ist. Und drittens noch etwas, was niemand wissen „muss“ – aber was vielleicht die Persönlichkeit ausmacht, oder die persönlichen Interessen widerspiegelt.

Die ersten beiden Schichten können dünn sein, aber sie sollten robust sein. Die dritte darf beliebig dick sein.

Was gehört in die erste Schicht? Dass man die deutsche Muttersprache (wenn es denn die Muttersprache ist) beherrscht. Heute wahrscheinlich auch so viel Englisch, dass man sich wenigstens verständigen und einfache Texte mit Hilfe eines Wörterbuchs lesen kann.

In die erste Schicht gehört auch, dass man die Prozentrechnung mit Hilfe eines Taschenrechners beherrscht. Außerdem sollte man in Grundzügen verstehen, wie unser demokratisches System und die Marktwirtschaft funktionieren. Und historische Grundkenntnisse haben.

Die zweite Schicht ist besonders wichtig. Wer als Bürgermeister einer Kleinstadt auch auswärtige oder ausländische Gäste empfängt, sollte schon etwas über die Geschichte seiner Stadt wissen – aber auch über die deutsche Geschichte insgesamt. Das gilt für jeden Politiker.

Geschichte ist für Leute, die in der Öffentlichkeit stehen, häufig gar nicht zu umgehen – und daher ein extrem wichtiger Bestandteil der zweiten Schicht. Ansonsten ist alles, was hier infrage kommt, sehr stark von der jeweiligen Position abhängig: Von einem Professor erwartet man, auch in fachfremden Bereichen, etwas mehr Allgemeinbildung als von einem Arzt oder einem Programmierer.

Bildung ist aber, um beim Beispiel Arzt zu bleiben, auch die Fähigkeit zur Kommunikation. Mediziner, aber auch viele Kundenberater, müssen sich auf ein sehr unterschiedliches Publikum einstellen. Bildung heißt hier auch, sprachlich auf der Höhe zu sein und einigermaßen zu wissen, was in der Zeitung steht.

Für die dritte Schicht gibt es keinerlei Vorgaben. Es ist nicht einzusehen, warum heute ein Mensch, der Latein kann, in jedem Fall als „gebildet“ gilt, jemand, der Suaheli spricht, dagegen „nur“ als eine Art Exot. Mit der Globalisierung der Kulturen hat sich der feste Kanon in diesem dritten Bereich – da, wo die Persönlichkeit zum Ausdruck kommt – ganz und gar erledigt. Die Frage ist eigentlich nur noch: Wer ist ein interessanter Mensch? Wer interessiert sich für spannende Themen? Und gerade hier ist auch Wissen nicht mehr allein das Bildungsthema. Oder ist jemand, der viel über Johann Sebastian Bach gelesen hat, gebildeter als einer, der seine Musik spielen kann?

Bleibt die Frage, ob unser heutiges Bildungssystem dem beschriebenen Drei-Schichten-Modell angemessen ist. Zum Teil ist das sicherlich der Fall. Die Schule soll ja zunächst Grundlagen vermitteln – Englisch, Deutsch sowie eine gewisse Basis in Mathematik und Grundkenntnisse in anderen Wissenschaften. In den höheren Klassen erfolgt eine Differenzierung. Im Bachelor-Studium steigt man idealerweise dann wieder mit einer – innerhalb des Fachs – breiteren Basis ein und spezialisiert sich später. Die grobe Struktur scheint also zu stimmen.

Die Umsetzung freilich häufig nicht. Immer noch werden Schüler ausgebildet, die viel über den Investiturstreit im Mittelalter lernen (zweite oder dritte Schicht), dafür aber kaum die Grundzüge unseres politischen Systems verstanden haben (erste Schicht). An der Uni sieht es in vielen Studiengängen ähnlich aus: viel Ballast auf der einen Seite, fehlende Grundlagen auf der anderen.

Es gibt also noch viel zu tun beim Umbau des Bildungssystems – wenn wir uns dann endlich geeinigt haben, was Bildung sein soll. (HB)

Frank Wiebe

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