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Wirtschaft: Jürgen Rau

Geb. 1957

Was tun gegen Aids? Zum Beispiel als Fee durch den Tiergarten tanzen. Jürgen war eigentlich gar nicht sein Typ, mit einem Meter sechzig auch viel zu klein. Aber irgendetwas war da, das Thomas so faszinierte, als ihm Jürgen vor sieben Jahren im Kit-Kat-Club ein Päckchen mit Kondomen, Gleitgel und einer Vitamintablette darin zuwarf, ein so genanntes „Technopack“.

Miteinander was angefangen haben die beiden trotzdem nicht in dieser Nacht. Das kam erst ein paar Wochen später bei der Love Parade. Aber auch an dem Tag haben sie zunächst stundenlang im Auto gesessen und geredet. Thomas merkte, die Party da draußen kann gar nicht so toll sein wie dieser Mann.

Jürgen Rau war klein, aber für seine Freunde ein Riese. Er sprach Klartext und hatte Lösungen für Probleme parat. Kein Kummer war zu klein, als dass er sich nicht die ganze Geschichte anhörte. Und er war tolerant; tu dies, lass’ das – das war nicht seine Welt. „Viel Spaß im Leben deiner Wahl“, das war sein Leitsatz.

Das klingt nach Gleichgültigkeit, aber bei ihm war es Fürsorge. Jeder hat es in der Hand, seine Situation zu ändern – so sah er das. Das Leben verläuft nicht so, wie man sich das vorstellt? Dass das nicht selten so ist, wusste niemand besser als er selbst.

Das ging bei ihm schon im zarten Alter von acht Jahren los. Die Mutter trank, vom Vater fehlte jede Spur. Die Großmutter nahm seine beiden Schwestern bei sich auf. Für den kleinen Jürgen war da kein Platz mehr. Er kam ins Heim.

Doch das schadete ihm gar nichts. Im Gegenteil, er blühte auf, weil er dem Neuköllner Suff-Milieu entkommen war. Den Kontakt zur Familie fand er nie wieder. Nicht einmal zu seiner Beerdigung waren Verwandte da. Im Heim fand Jürgen Freunde, die ihm alles bedeuteten. Und er entdeckte sein künstlerisches Talent. Als Kind spielte er neben Gert Fröbe und Mario Adorf im Film „Tod oder Freiheit“. Bei den Proben zu einer Revue mit Romy Haag stellte er fest, dass er schwul war, und dass das nichts Schlimmes war.

Aber so glatt ging es dann doch nicht weiter. Der Alkohol, dem er entfliehen wollte, holte ihn ein. Erst nach Jahren entschied er sich für eine Therapie – und er schaffte den Absprung.

Die Kraft, die er so gewann, steckte Jürgen in die Fürsorge für seine Freunde. Und in die Aufklärungsarbeit in Sachen Aids. Ein enger Freund war daran gestorben. Jürgen hatte genaue Vorstellungen, wie die Aufklärung in der schwulen Szene auszusehen hat. Zum Beispiel im Tiergarten, wo viele Schwule in der Nacht den schnellen Sex suchen. Als Fee verkleidet, tanzte er mit Freunden im Schein der Fackeln, um die Lustwandelnden an die tödliche Bedrohung zu erinnern. Natürlich kann man auch Infotische aufklappen und Broschüren verteilen. Aber wie sieht so etwas im Kit-Kat-Club aus? Da stellte er ein Latex-Bett auf und verstreute „Technopacks“ darauf.

Seine Energie verlor er auch nicht, als Jürgen selbst die Diagnose HIV bekam. Er blieb trotzdem nächtelang in den Clubs, im E-Werk, im Ostgut, im Connection. Und tanzte zur Technomusik, manchmal zwölf Stunden lang.

Das sollte auch so weitergehen, als die Ärzte bei ihm Lymphdrüsenkrebs feststellten. Die Chemo-Therapie ließ er geduldig über sich ergehen. Als er den Krebs endlich besiegt zu haben schien, bekam er eine Lungenentzündung. Ans Sterben hat er zwar gedacht, aber ans Aufgeben nie. Er glaubte an die Wiedergeburt. Deshalb wollte er seine Asche anonym bestatten lassen. Das hat ja nichts mit mir zu tun, hat er gesagt, ich komme wieder.

Auf der Beerdigung gab es statt Trauerrede und Orgelmusik eine Diashow: Jürgen in den Clubs, Jürgen beim Zelten, Jürgen mit seinen Freunden, Jürgen und Thomas. Er hatte viel Spaß im Leben seiner Wahl.

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