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Wirtschaft: Kalkül per Kristallkugel

Das Ende der Krise ist nah, beteuern Wirtschaftsforscher, doch mit ihren Prognosen lagen sie schon oft falsch

Geschichte wiederholt sich nicht. Eigentlich. Außer in Berlin. Dort, in der Bundespressekonferenz, setzen sich zweimal im Jahr die Chefprognostiker der wichtigsten Forschungsinstitute auf das Podium und verkünden, wie stark die deutsche Wirtschaft in den kommenden Monaten wachsen wird. Genauso regelmäßig müssen die Herren freilich wenige Monate später eingestehen, dass sie mit ihrer Prognose daneben lagen – so war es zumindest in den vergangenen drei Jahren.

Und so könnte es auch dieses Mal kommen. Um 1,7 Prozent soll das Bruttoinlandsprodukt 2004 erstarken, offenbarten die Ökonomen vergangene Woche. „Mit der Zahl habe ich Bauchschmerzen“, gibt Roland Döhrn aber schon weniger Tage später zu. Er hat als Konjunkturchef des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen die Prognose maßgeblich mitverzapft. „Wenn der Dollar abstürzt, ist unsere Vorhersage wieder Makulatur“, klagt er. Alles wie gehabt also.

Es ist paradox: Noch nie hatten Wirtschaftsprognosen so viel Aufmerksamkeit wie heute – obwohl sie in den vergangenen Jahren fast nie zutreffend waren. Doch seit Ende 2000 stagniert die Wirtschaft, und Bürger wie Politiker lechzen nach guten Nachrichten und Daten, die auf ein Ende der Krise hoffen lassen. Beinahe jede Vorhersage, ob vom Internationalen Währungsfonds oder vom Maschinenbauverband, ist ein Politikum, jede Korrektur nach oben oder unten macht Schlagzeilen. Jetzt, am Jahresende, haben die Seher Hochsaison: Nach den sechs Wirtschaftsinstituten will kommende Woche die EU-Kommission ausrechnen, wie hoch das Staatsdefizit Deutschlands 2004 sein wird. Anfang November berechnen die amtlichen Steuerschätzer die voraussichtlichen Einnahmen des Fiskus, kurz darauf will der Rat der „Fünf Weisen“ seine Expertise über die Konjunktur vorlegen. Dutzende Banken werden folgen.

Prognosen sind in der komplexen Wirtschaftswelt von heute unverzichtbar geworden. Unternehmen lassen berechnen, wie sich ihre Absatzmärkte entwickeln, Banken schätzen zukünftige Kreditsummen ab und ihre Analysten die Entwicklung der Aktienmärkte. Und in Berlin wird mit den Berechnungen Politik gemacht: Ein halber Prozentpunkt weniger Wachstum lässt die Steuereinnahmen allein des Bundes um etwa eine Milliarde Euro einbrechen. Zugleich steigt die Arbeitslosigkeit – 100 000 mehr Menschen ohne Job bedeuten für die Arbeitsämter einen zusätzlichen Finanzbedarf von einer Milliarde Euro. Umgekehrt beginnen die Betriebe ab einem Wachstum von 1,5 bis zwei Prozent, neue Leute einzustellen – das entlastet die klammen Sozialkassen.

„Ein Prozent plus oder minus“

Dabei notierte schon der amerikanische Schriftsteller Mark Twain, dass „Prognosen eine schwierige Sache sind, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen“. Die Wirtschaftsforscher der Institute wissen das nur zu gut: Noch im vergangenen Herbst hatten sie für dieses Jahr ein um 1,3 Prozent stärkeres BIP prognostiziert – schon im Frühjahr aber mussten sie ihre Annahme auf 0,5 Prozent zurücknehmen. Jetzt gingen sie auf 0,0 Prozent zurück. Die renommierten „Fünf Weisen“ waren nicht viel besser. „Ein Prozent plus oder minus“ nennt der Ökonomie-Nobelpreisträger Reinhard Selten als Spielraum bei der Genauigkeit. Aber selbst mit dieser Toleranz hätten die Institute in den vergangenen 14 Jahren achtmal daneben gelegen.

Doch noch nie verfügten die Menschen über so viel Wissen wie heute, noch nie konnten die Forscher so viele Daten anzapfen und mit Hilfe modernster Computer sortieren. „Trotzdem ist bei jeder Prognose-Berechnung Intuition sehr wichtig“, sagt RWI-Forscher Döhrn.

Die Experten müssen die Frühindikatoren richtig interpretieren, also Umfragen über die Stimmung der Verbraucher oder Daten über den Auftragseingang bei den Unternehmen. Optimismus bedeutet steigende Kauflust, höhere Bestellungen lassen auf bessere Geschäfte in den kommenden Monaten schließen. Zudem gibt es ökonometrische Modellrechnungen über wichtige und einigermaßen stabile ökonomische Größen – etwa darüber, welchen Teil ihres Einkommens die Menschen auf die hohe Kante legen und wie viel sie ausgeben. Das schwierigste ist es aber, Indikatoren und Einzelmodelle miteinander zu verknüpfen und die richtigen Annahmen zu treffen, auf denen jedes Szenario basiert. Bei der Flut von volkswirtschaftlichen Zahlen und Parametern hängt alles mit allem zusammen: Wertet der Euro gegenüber dem Dollar auf, geht der Export zurück. Hebt die amerikanische Zentralbank die Leitzinsen an, werden Kredite für US-Konsumenten teurer, und sie kaufen weniger Autos aus Deutschland. Klettert die Börse, fühlen sich die Menschen vermögender, geben das Geld aber erst aus, wenn sie den gestiegenen Kursen wirklich trauen.

Schwer zu kalkulieren ist das Verhalten der Menschen nicht nur, weil Wirtschaft zu 50 Prozent Psychologie ist. Auch Ereignisse wie der 11. September 2001, der Irak-Krieg oder plötzliche Steuererhöhungen werfen alle Prognosen über den Haufen. Und auch die Globalisierung vermasselt den Ökonomen die Tour. „Früher konnten uns Börsenturbulenzen in Asien kalt lassen – heute sind sie auch in Europa zu spüren“, sagt Eckhard Wohlers, Konjunkturchef des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA).

Durcheinander schafft zudem das Statistische Bundesamt, das gelegentlich die offiziellen Daten, mit denen die Experten rechnen, nachjustiert. In den Computern der Prognostiker führt das zu einer Kettenreaktion. Wegen dieser Störfaktoren hat sich in der Zunft Bescheidenheit breit gemacht. „Es kommt darauf an, konjunkturelle Wendepunkte auszumachen, also den Übergang von der Krise in den Boom", sagt RWI-Experte Döhrn. „Wachstumsraten auf ein Zehntelprozent genau zu berechnen ist fast unmöglich.“

Das wissen auch Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) und seine Konjunkturfachleute. Während die meisten Prognostiker über den Sommer ihr Erwartungen an das Wachstum in diesem Jahr zurückschraubten, hielt die Regierung stur an ihrer Rate von 0,75 Prozent fest. Zur Korrektur auf die längst feststehenden 0,0 Prozent bequemte sie sich erst vergangenen Donnerstag. Dabei dürfte Clement eine Maxime des britischen Premiers Winston Churchill beherzigt haben: „Der sicherste Zeitpunkt für eine Prognose ist kurz nach dem Ereignis.“

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