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Wirtschaft: Karl Schwichtenberg

Geb. 1920

Die Berliner Morde aus 18 Jahren: Er war an allen Tatorten Wir schreiben das Jahr 1978, den 16. November. Tanja Turner ist entführt worden, ein achtjähriges Mädchen aus Charlottenburg, die Enkelin eines Antennenfabrikanten. Die Kidnapper verlangen drei Millionen Mark in gebrauchten Scheinen und natürlich: „Keine Polizei!“ Die Eltern haben die Polizei längst informiert, Karl Schwichtenberg, von Kollegen „Schwichte“ genannt, führt die Ermittlung. Als Leiter der Mordinspektion M1 ist er zuständig für die Aufklärung von Mord, Totschlag, erpresserischem Menschenraub, Sprengstoffdelikten und Katastrophen.

Seine Kollegen sagen, er liebe seine Arbeit. Seine Aufklärungsquote liegt bei 95 Prozent, so viele Erfolgserlebnisse gibt es nicht in jedem Beruf.

Für die Sonderkommission „Tanja Turner“ wird ein bedeutender Teil seiner Inspektion M1 eingesetzt, ein Team von zwei Mordkommissionen, das rund um die Uhr im Einsatz ist, dazu die komplette Fahndung. Schwichtenberg hat Erfahrung mit Fällen dieser Größenordnung. In den siebziger Jahren ließ er im „Fall Paula Weiß“ seine Beamten eine ganze Mülldeponie durchkämmen, um Teile der Leiche zu finden.

Die Entführer von Tanja Turner melden sich telefonisch bei den Eltern. Sekundenkurze Anrufe, dennoch gelingt es, die Anrufe zurückzuverfolgen – zu Telefonzellen in Charlottenburg, Reinickendorf, Schöneberg. Es gelingt auch, die Entführer etwas hinzuhalten, indem man ihnen vom Erbschaftsstreit der Familie berichtet. Die Eltern von Tanja Turner, haben tatsächlich keine drei Millionen.

Währenddessen entwickelt Schwichtenberg seinen Plan: In der Innenstadt gibt es 2543 Telefonzellen an 1596 Standorten, die observiert werden müssen. Großer Aufwand, noch nie betrieben, zweifellos. Aber machbar, entscheidet er und postiert in den nächsten Tagen Tausende Berliner Polizisten in Zivil vor den Telefonzellen der Stadt.

Am 20. November um 12 Uhr 46 dann der Treffer. Den Beamten fällt ein Mann auf, der sich vor der Telefonzelle Handschuhe anzieht, ein sehr kurzes Telefonat führt; zur gleichen Zeit klingelt auch bei den Turners das Telefon. Noch am Abend wird der Handschuhträger festgenommen, ein 37-jähriger Maurer aus Neukölln, der sofort geständig ist, die Polizei zu seinen zwei Komplizen führt und zu dem Kind.

Es sind die „guten, alten Kriminalfälle“ wie die Entführung Tanja Turners, die man bei der Berliner Polizei mit der „Ära Schwichtenberg“ verbindet. Fälle, die noch irgendwie im Maß blieben, nicht ins Endlose eskalierten. Er selbst war in seinem Kopf dieser Zeit schon voraus. Er musste es sein, als Katastrophendenker. Was machen wir, fragte er sich, wenn ein voll besetztes Flugzeug auf dem Hermannplatz runtergeht? Ein düsteres Papier hat er darüber geschrieben: Wohin so schnell mit all den Leichen, und wie trotz des Chaos’ den Überblick behalten, damit zumindest die Angehörigen Gewissheit haben können?

Zur Mordkommission geht jeder freiwillig, sagt man, es muss eine Herzensentscheidung sein: kein Feierabend, die Belastung für die Familie und tagtäglich der Blick in die menschlichen Abgründe. Wegen der besten Lebensmittelkarten habe er nach dem Krieg bei der Polizei angefangen, hat Schwichtenberg mal erzählt, aber vielleicht wollte er damit auch nur seine Zuhörer zum Schmunzeln bringen. Denn in den Jahren zwischen 1962 und 1980 gab es keinen gemeldeten Mord in Berlin, an dessen Tatort er nicht ein paar Stunden später gewesen wäre. „Sein Leben war geprägt von Pflichterfüllung im Beruf“, das, sagte er, sollte einmal unter seiner Traueranzeige stehen. Das war das Einzige, was er über seinen eigenen Tod geäußert hat.

Doch einen bemerkenswerten Satz gibt es noch, aus einem Interview. Er klingt sehr wahr und sehr professionell: „Ich bin in meiner Arbeit immer davon ausgegangen, dass jeder ungern stirbt. Und ich finde, dass die vorsätzliche Tötung eines kleinen Mannes mit genauso viel Sorgfalt untersucht werden muss wie ein Gewaltverbrechen an einer bekannten Person.“

Kirsten Wenzel

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