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Freiwilliges soziales Jahr: Und Bruce Willis hat nie Zeit

Ihr Kind will ein Jahr ins Ausland gehen? Atmen Sie tief durch – und nicken Sie. Aus reinem Eigennutz. Ein Vater berichtet.

Ein knapper Meter. Für mich ist sie nie größer geworden. Und jetzt, im Flieger zwischen Miami und La Paz, sagt ihre Mutter zu mir: „Nantke sorgt sich um uns, sie hat Angst, dass wir unterwegs den Anschluss verpassen oder uns verirren oder der Flug zu hart ist.“ Ein Witz? Eben musste ich noch darauf aufpassen, dass sie nicht von der Schaukel fällt. Und jetzt sorgt sie sich darum, dass ihre Eltern auf dem Weg nach Bolivien verloren gehen.

1,69 Meter. Nantke holt uns am Flughafen von Cochabamba ab. Wir haben sie seit sieben Monaten nicht gesehen. „Ich bin total fertig, wir haben die ganze Nacht gefeiert“, begrüßt sie uns. Daran sind zwei Dinge bemerkenswert. Erstens: Es gibt ein „wir“ in Bolivien. Zweitens: Während ich mich von Ibuprofen ernährt und den Billigflug verflucht habe, hat Nantke getanzt. „Ich dachte, Du hast Dir Sorgen gemacht“, sagt ihre Mutter. Nantke lacht das weg, führt uns aus dem Flughafengebäude und verhandelt in rasantem Spanisch mit einem Taxifahrer über den Preis. Zwölf Bolivianos kostet die Fahrt in den Vorort, das entspricht einem knappen Euro. Wir hätten mehr Geld in den Flug investieren sollen.

„Nehmt nur die ,Radio Taxis’, wenn Ihr ohne mich unterwegs seid. Oder wollt Ihr ausgeraubt werden?“, erklingt die Taxi-Ansage. Müsste das nicht meine Phrase sein? Andererseits führe ich nicht gerade ein abenteuerliches Leben. Nantke ist diejenige, die in ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr in Südamerika für eine Menschenrechtsorganisation arbeitet. Sie ist diejenige, die unter anderem Frauen betreut, die mehrjährige Haftstrafen absitzen.

Zu dumm, dass die Kinder gar keine mehr sind

Gefühlte 2,10 Meter. Im Blog über ihre Zeit in Bolivien schreibt sie Sätze wie: „Da ist zum Beispiel Don Hugo. Er ist fast 80 und hat Prostatakrebs im Endstadium. Ich habe vor ein paar Wochen angefangen, einen Zeitzeugenbericht mit ihm aufzunehmen, wir sind aber nicht sehr weit gekommen. Sein Zustand ist von Woche zu Woche schlechter, er wird immer dünner, die Schmerzen scheinen unerträglich. Manchmal habe ich Angst, ihn tot vorzufinden.“

Vielleicht bin ich in meinem väterlichen Stolz nicht objektiv, aber mich rührt das alles unheimlich an. Meine Güte, was für eine Erfahrung für eine 20-Jährige: „Don Hugo scheint sich zu freuen, wenn ich vorbeikomme, wir reden ein bisschen, ich kämme ihm die Haare – weil er dann jünger aussieht, wie er sagt.“ Und wir? Weil uns die Krümel auf den Böden in Nantkes Wohnung stören, kaufen wir ihr einen Besen.

Seit dem Tag, an dem feststand, dass Nantke nach Bolivien („Bolivien?!“) gehen würde, ist der Gedanke an unsere Tochter von einer diffusen Bedrohungslage umweht. Was weiß ein durchschnittlicher Westeuropäer über dieses Land? Irgend so ein Andenstaat. Militärdiktatur, gar nicht lange her. Wasserprobleme. Schräger Präsident. Evo Morales, genau, das ist der Mann, der Edward Snowden Asyl angeboten hat.

Wer durch Bolivien reist, hört unzählige Seltsamkeiten über den Staatschef. Er soll behauptet haben, dass der Verzehr von Hähnchen schwul macht, weil industriell produziertes Geflügel mit weiblichen Hormonen behandelt wird. Die reale Politik verblasst hinter solchen Anekdoten. Und wer könnte aus dem Informationswust den seriösen Teil herausfiltern, der die wichtigste aller Fragen beantwortet: Kann ich mein Kind ruhigen Gewissens in so ein Land gehen lassen? Die Antwort ist klar: Natürlich nicht. Zu dumm, dass die Kinder gar keine mehr sind – und trotzdem gehen.

Ich mag nicht aus Flugzeugen springen – Nantke muss alleine klarkommen

Das Auswärtige Amt schreibt: „In Bolivien kommt es immer wieder regional zu sozialen Unruhen, die schnell eskalieren können. Reisenden wird dringend empfohlen, Protestveranstaltungen und Menschenansammlungen im ganzen Land zu meiden.“ Na, klar. Lass Dich nicht von Fremden ansprechen. Trinke nicht, rauche nicht. Meide Menschenansammlungen.

2558 Meter. Für bolivianische Verhältnisse liegt Cochabamba nicht sonderlich hoch. Aber Nantke hat für uns ein unerwartet touristisches Programm organisiert. Wir reisen zuerst mit dem Bus und später mit dem Zug von Cochabamba in die richtigen Berge. Auf der Fahrt laufen lauter Gringo-Videos. In einem Film geht es ausgerechnet darum, dass Liam Neesons Tochter (in Nantkes Alter!) entführt wird. Jedenfalls fliegt Liam kurzerhand nach Monte Gockelo und haut sie da raus. Wahrscheinlich hatte Bruce Willis keine Zeit. Und genau das beschreibt das Problem: Ich bin ungeübt im Umgang mit Handfeuerwaffen. Ich mag nicht ohne Fallschirm aus Flugzeugen springen. Nantke muss alleine klarkommen.

„Sorgst Du Dich noch um mich?“ Gute Frage.

3670 Meter. In Uyuni ist es kalt, öde und windig. Ein Umschlagplatz für Touristen. Von hier fährt uns Mario, ein schlauer Typ mit einem unglaublichen Orientierungssinn, auf den Salar de Uyuni, den grellen See aus Salz. Und es geht weiter, Marios Toyota Land Cruiser krabbelt die Felsen hoch. Wir verinnerlichen das bolivianische Mantra: Durchfall? Kokablätter! Schmerzen? Kokablätter! Höhenkrankheit? Kokablätter!

Unheimlich groß, unheimlich hoch, wir knacken die 5000 Meter-Grenze. Morgens um sieben liegen wir im Nationalpark Eduardo Abaroa in einer Thermalquelle. Während die frostigen Nächte und die Strapazen in Flugzeugen, Zügen, Bussen und Autos aus unseren Knochen strömen, fragt mich Nantke: „Sorgst Du Dich noch um mich?“ Gute Frage. Wenn ich ehrlich bin, sind meine Albträume kaum weniger beängstigend als vor zwei Wochen.

Und während mir die (wenigen) Haare zu Eiszapfen gefrieren, antworte ich ausweichend: „Ich schätze, dass auch ein bolivianischer Vater Angst haben müsste, wenn seine Tochter ein Jahr in Deutschland verbringen wollte.“ Ich hätte auch sagen können: „Die Welt ist voller Dummköpfe und schlechter Menschen. Es ist schrecklich schwer, das eigene Kind loszulassen.“ Und Bruce Willis hat nie Zeit.

Heiner Siefken

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