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Jobs & Karriere: Lernen ohne Lehrer

An einigen Berliner Schulen unterrichten sich Schüler gegenseitig. So trainieren sie, selbstständig zu arbeiten

Der Stummfilmklassiker „Streik“ von Sergei Eisenstein flimmert über die Wand des Seminarraums. Ein Arbeiteraufstand wird gewaltsam niedergeschlagen, einer Kuh die Kehle durchgeschnitten. „Brutale Bilder und harte Schnitte sollten den Zuschauer schockieren, veraltete Kunstvorstellungen überwinden“, erklärt eine Studentin des Lehrgangs „Filmschnitt“ die künstlerische Idee des sowjetischen Regisseurs. Die Kommilitonen grübeln vor sich hin, „der Eisenstein war schon ein waschechter Bolschewik“, wirft jemand ein. Andere lassen die Blicke aus dem Fenster schweifen.

So könnte sich der Unterricht auch an jeder Filmhochschule abspielen, mit einem entscheidenden Unterschied: In der Kreuzberger „Filmarche“, wenige Meter von der Spree entfernt, gibt es keine Professoren, die Referate kommentieren und benoten. Die Studierenden gestalten ihren Unterricht selbst. Teilnehmer höherer Semester unterstützen sie und geben ihr Wissen an die nachfolgenden Jahrgänge weiter. Wenn Gastdozenten auftreten, dann nur auf Einladung.

Die Idee der berufsbegleitenden, selbst organisierten Filmschule entstand vor gut sechs Jahren. Eine Gruppe junger Filmemacher beschloss damals, „einen Raum zu schaffen, in dem man sich theoretisch und praktisch weiterbilden kann“, sagt Jan Buttler, Schatzmeister der Filmarche. Die Nachwuchs-Filmemacher gründeten einen Verein, der die Schule finanziert. Damit wollten sie auch ein politisches Signal setzen: „Der Staat wälzt immer mehr Verantwortung für die Bildung auf kommerzielle Träger ab. Dem wollten wir ein anderes Modell entgegensetzen“, so Buttler. Obwohl es keine staatliche Förderung gibt, soll sich die dreijährige Ausbildung jeder leisten können: Ausrüstung, Honorare für Dozenten und die Seminarräume in der Schlesischen Straße werden aus den Mitgliedsbeiträgen von monatlich 50 Euro pro Person finanziert.

Aus der spontanen Initiative ist mittlerweile eine Filmschule mit Lehrgängen in Regie, Drehbuch, Kamera, Schnitt und Produktion geworden, an denen rund 120 Schüler teilnehmen. Wer hier studieren will, muss sich aktiv einbringen. Neben den 16 Stunden Unterricht pro Woche ist ehrenamtliche Vereinsarbeit Pflicht. Das bedeutet: Seminarräume putzen, Büroarbeit machen und jüngere Jahrgänge betreuen. Dabei geht es nicht immer gerecht zu: „Manche engagieren sich mehr, andere weniger – das führt zu Frust“, räumt Schatzmeister Tomislav Turina ein. Doch das Prinzip Selbstorganisation sei nicht nur ein notwendiges Übel, sondern auch eine gute Vorbereitung auf den Job: „Diejenigen, die sich bisher am stärksten einbrachten, hatten auch den größten beruflichen Erfolg. Denn hier lernt man genau das, was man als Filmemacher braucht: Selbstständigkeit und Organisationsfähigkeit“, sagt er.

Bei aller Freiheit gibt es aber auch feste Strukturen: Jeder Studiengang hat einen Rahmenlehrplan, den die gewählte Studiengangsleitung entwirft und weiterentwickelt. Im ersten Halbjahr etwa besuchen alle Studierenden den Grundkurs „Film“, in dem das Basiswissen vermittelt werden soll. Zusätzlich zum Theorieunterricht produzieren die Studenten jedes Jahr einen Kurzfilm. Persönliche Interessen kann man in Arbeitsgemeinschaften zu Themen wie Dokumentarfilm, Filmgeschichte oder Schauspiel vertiefen.

Unterstützt wird das Lern-Projekt von Filmprofis: Regisseur Daniel Levy nennt die Filmarche „eine ernst zu nehmende Alternative“ auf dem Weg zum Filmemacher. Das sieht Gerhard Schumm, Professor für das Fach „Montage“ an der Hochschule für Film- und Fernsehen Potsdam-Babelsberg (HFF), ganz ähnlich: „An großen Hochschulen wird man institutionsfähig, an der Filmarche kann man dafür freier eigene Projekte umsetzen“, sagt er. Dabei zähle vor allem die Fähigkeit, sich für Film und Fernsehen zu begeistern. Schumm ist von dem Konzept überzeugt und bietet mittlerweile regelmäßig Workshops an der Filmarche an. Die Studenten lädt er außerdem als Gasthörer zu seinen Hochschulseminaren ein.

Doch nicht nur Filmemacher können selbstbestimmt lernen: Die meisten Schüler der „Selbstverwalteten Schule für Erwachsenenbildung“ (SFE) lernen nicht auf einen bestimmten Beruf hin, sondern holen in autodidaktischen Lerngruppen einen Schulabschluss nach. Sie sind oft an den Strukturen des etablierten Schulsystems gescheitert, wollen auf das Abitur oder die Mittlere Reife jedoch nicht verzichten.

Die Initiatoren der SFE gründeten ihre Schule 1973 und gehörten damals zu den Pionieren des selbst organisierten und selbst bestimmten Lernens. Damals rebellierten Lehrer der renommierten Privatschule „Gabbes Lehranstalten“ mit einem Streik gegen überfüllte Klassen und autoritäre Lehrformen. Nachdem die Polizei den Protest gewaltsam beendet hatte, wagten sie das Experiment, eine Schule nach ihren Vorstellungen zu gründen – ohne Zwang und Leistungsdruck.

Nach ihrem Selbstverständnis ist die SFE im Kreuzberger Mehringhof „anders und auch ähnlich“ im Vergleich zu staatlichen Abendschulen. Anders, weil es keinen Direktor und keine Noten gibt. Stattdessen entscheidet die Schulversammlung demokratisch über gemeinsame Regeln und die Höhe des Schulgeldes, Schüler und Lehrer analysieren gemeinsam Wissenslücken und können sich gegenseitig abwählen, wenn es Konflikte gibt.

Ähnlich wie an anderen Schulen sind die Lerninhalte, die sich an den Berliner Rahmenplänen orientieren. Und bei aller Freiheit des Lernens soll ein Ziel nicht aus dem Blick geraten: die jeweilige Abschlussprüfung. Dafür leistet sich die Schule ein Lehrerkollegium, das mit den monatlichen Gebühren von rund 140 Euro pro Schüler unterhalten wird. An der Filmarche stellt die Studiengangsleitung ihren Filmschülern nach drei Jahren ebenfalls ein Zertifikat aus. Staatlich anerkannt ist das jedoch nicht. „Was man aus der Ausbildung macht, hängt von einem selbst ab“, meint Professor Gerhard Schumm. Auch nach dem Abschluss ist also Eigeninitiative gefragt.

Selina Byfield

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