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SOS-Kinderdorfmutter: Manchmal sagen sie „Mama“

Als SOS-Kinderdorfmütter und -väter geben ausgebildete Erzieher Kindern aus schwierigen Verhältnissen wieder Halt. Und wohnen mit ihnen wie eine normale Familie zusammen. Eine Lebensaufgabe

Constanze Lucke erinnert sich noch genau daran, wie es war, zum ersten Mal Mama genannt zu werden. Ihr Sohn David war damals acht. „Er hat mich immer ‚Conny’ genannt. Dann musste ich in einem Möbelhaus etwas einkaufen, er war währenddessen im Spieleparadies. Als ich ihn abholen wollte, war alles voller Kinder. Irgendwer rief ‚Mama, Mama!’. Erst fühlte ich mich nicht angesprochen. Aber dann merkte ich: David ruft mich. Er wollte mal aus einer anonymen Situation heraus probieren, wie sich das anfühlt, ‚Mama’ zu sagen“, erinnert sich Lucke. Wieder zu Hause im SOS-Kinderdorf Brandenburg beriet sich der Achtjährige mit seinem zehnjährigen Bruder. Dann war die Sache klar: Constanze Lucke war nun „Mama“.

David, der Junge, der sie das erste Mal „Mama“ nannte, ist mittlerweile 21 und hat eine eigene Familie gegründet. Die Geburtsanzeige des kleinen Ian hängt an einer Pinnwand in der Küche. „David besucht uns oft. Das ist eine innige Beziehung, die hört nicht auf, wenn die Kinder mit 18 oder 19 ausziehen“, sagt Lucke. Idyllisch im Grünen liegt Haus 6 der Anlage, wo die 43-jährige Lucke drei Jungs und zwei Mädchen betreut. Die Kinder sind keine Geschwister; gemeinsam ist ihnen, dass sie bei ihren Geburtsfamilien nicht bleiben konnten.

Während bei der Gründung des ersten SOS-Kinderdorfs vor 60 Jahren in Tirol durch Hermann Gmeiner der Gedanke im Vordergrund stand, Waisen ein Heim zu bieten, haben die meisten Kinder in den mittlerweile 490 Kinderdörfern weltweit noch leibliche Eltern. „Sie sind Sozialwaisen“, sagt Lucke. In SOS-Kinderdörfern finden Minderjährige ein Zuhause, bei denen das Jugendamt davon ausgeht, dass sie langfristig nicht zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren können. Viele Kinder wurden vernachlässigt oder misshandelt. Doch wird der Kontakt zur Geburtsfamilie möglichst gepflegt.

Das Gemeinschaftsgefühl braucht Zeit. Constanze Lucke ist ein natürlicher Typ, der auf Make-up verzichtet und die braunen Haare in einem praktischen Kurzhaarschnitt trägt. Luckes Stimme bleibt immer ruhig, auch wenn der dreijährige Cedric anfängt zu schreien, weil ein anderes Kind ihm einen Buntstift nicht geben will. Sie nimmt den zitternden Dreikäsehoch auf den Arm und trägt ihn in sein Bett. Nach einer guten Viertelstunde taucht sie wieder auf. „Er hat keinen Mittagsschlaf gemacht. Dass wir heute Besuch haben, war zu viel Aufregung für ihn“, sagt sie. Die Augen seien ihm zugefallen, aber er hätte sie immer wieder aufgerissen, um zu gucken, ob sie noch an seinem Bett sitze. Verlässlichkeit ist ein zentraler Wert, den sie den Kindern vermitteln will. „Die Kinder sehnen sich danach, anzudocken“, sagt die Kinderdorf-Mutter. Es sei nicht unüblich, dass die Jungen und Mädchen vorher in fünf oder sechs Pflegefamilien waren.

Die 43-jährige Constanze Lucke studierte in der DDR Krippenpädagogik, arbeitete danach mehrere Jahre in einem Kinderheim. Durch die Schichtarbeit sei es schwierig gewesen, innige Beziehungen zu den Kindern auszubauen, sagt sie. Daher entschloss sich Lucke vor zwölf Jahren zur Ausbildung als Kinderdorf-Mutter, machte das erforderliche einjährige Praktikum in einer SOS-Kinderdorffamilie und bestand den obligatorischen psychologischen Eignungstest.

Dann begann sie mit zunächst zwei Kindern, ihre eigene Familie aufzubauen. In der Regel startet man mit ein bis zwei Kindern. Mit der Kinderdorfleiterin werden dann die Akten gewälzt von Kindern, die das Jugendamt vorschlägt, und die Kleinen für eine neue Kinderdorffamilie vorausgewählt. Dann lernen sich die Kinder und die Dorfmütter beziehungsweise -Väter kennen. Es muss ja auch passen. Die Familien werden langsam und behutsam aufgebaut und individuell zusammengesetzt.

Im Haus 6 des Kinderdorfes Brandenburg hat Lucke ein eigenes Zimmer mit Bad, den restlichen Wohnbereich teilt sie mit den Kindern. Einen Tag die Woche hat sie frei. Sie hat eine Mitarbeiterin, die im Schichtdienst arbeitet. Manche der Kinderdorf-Mütter und -Väter haben noch eine Zweitwohnung in der Stadt. Lucke nicht. Bei verheirateten Müttern oder Vätern zieht der Ehepartner auch oft mit ein ins Dorfhaus. In den Sommerferien reisen die SOS-Kinder in Ferienlager, ihre Mütter oder Väter haben dann vier Wochen am Stück Urlaub.

Das gemeinsame Mittagessen gehört zu den Ritualen der Familie Lucke. Dann braucht Jacqueline Hilfe bei den Hausaufgaben, Cedric will die Geschichte von der Raupe Nimmersatt hören, Nicole muss zum Orthopäden und Pascal zum Handballverein gefahren werden. Dieser nie monotone Alltag erfüllt die Brandenburgerin. Ihre Zufriedenheit mit dem Beruf stärkt das dichte Netz von Unterstützungsangeboten. Während die Kinder in der Schule oder dem Kindergarten sind, nimmt Lucke regelmäßig an Seminaren teil, die das SOS-Dorf anbietet. Für jedes Kind schreibt sie einen Entwicklungsbericht, der alle sechs Monate mit dem Jugendamt besprochen wird. Dann werden die Ziele des vergangenen Halbjahres überprüft, ob das Kind zum Beispiel gelernt hat, die Schnürsenkel zu binden. Bei Bedarf werden Sprach-, Psycho- oder Bewegungstherapeuten hinzugezogen.

Nicht nur die Alltagspflichten, auch ihre Hobbies teilt Lucke mit ihren Kindern. Auf Tochter Nicole hat Luckes Faible für Vogelkunde abgefärbt, sie verblüfft ihre Mutter manchmal mit Sätzen wie: „Oh, das ist wohl der Balzgesang des Roten Milans“. Einige Lehrer hätten sie darauf angesprochen, wie gut sich ihre Kinder in der Natur auskennen, sagt Lucke stolz. In solchen Momenten werde ihr wieder bewusst, weshalb sie es zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hat, eine „Kinderdorf-Mama“ zu sein. „Ein Kind, das wieder offen ist für all das Schöne, was das Leben bieten kann; ein Kind, das wieder zuversichtlich in seine Zukunft schreitet: Dafür lohnt es sich, seine Kraft einzusetzen.“

Annette Leyssner

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