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Studierzimmer mit Ausblick. Kompromisse werden viele Studienanfänger bei der Uniwahl machen müssen. Das fällt leichter, wenn man sich wohlfühlt.

© Ralf Hirschberger/pict.-all./ZB

Unistädte: Heimat auf Zeit

Groß oder klein, Berge oder Badestrand: Wie Studierende die passende Stadt finden.

Ihr Bruder ist schuld. „Ohne ihn hätte ich mir bislang wahrscheinlich nur überlegt, was ich studieren will“, sagt Silvia Fischer, „aber nicht, wo.“ Die 18-Jährige hat nur noch ein paar Monate Schule vor sich. Danach wird sie – da ist sie sich absolut sicher – einen Bachelor in Romanistik machen. Sie hat lange überlegt, ob sie das in einer kleinen oder großen Stadt tun möchte. An einem Ort, an dem sie „endlich einmal niemanden kennt“ oder dort, wo sie wahrscheinlich ihren halben Abiturjahrgang treffen wird.

„Mein Bruder hat damals in einer ziemlich kleinen Stadt einen Studienplatz in Medizin bekommen, und er war dort eigentlich immer unglücklich“, erinnert sich Silvia. Andererseits habe er es nicht geschafft, etwas an seiner Situation zu ändern. „Er hat das immer auf den Stress geschoben, aber ich glaube, er hatte Angst, woanders noch unzufriedener zu sein.“ Wie Silvias Bruder geht es vielen Studierenden. Die einen können sich die Uni, an die sie gehen, nicht aussuchen und müssen froh sein, überhaupt einen Platz in ihrem Wunschfach zu bekommen. Andere wissen nicht, nach welchen Kriterien sie sich für diese oder jene Stadt entscheiden sollen.

Klarer positioniert haben sich die Teilnehmer einer Umfrage auf der Studien- und Ausbildungsmesse „Einstieg“. Die Ergebnisse zeigen: Für 39 Prozent der Befragten ist es am wichtigsten, in einer „attraktiven Stadt“ zu studieren. Das Ansehen der Hochschule ist für 24 Prozent das ausschlaggebende Kriterium, die Einstufung der Hochschule in Rankings findet ein Fünftel der Befragten entscheidend. Andere Beweggründe landeten auf den hinteren Plätzen: Die Nähe zum Elternhaus hat nur bei jedem Zehnten Einfluss auf die Ortswahl, und lediglich acht Prozent haben vor allem das Preisniveau im Blick. Die Antworten lassen mehrere Schlüsse zu: Vielleicht haben sich die befragten Abiturienten bislang noch nicht mit dem Thema Geld befasst. Oder sie kommen aus Elternhäusern, in denen das keine Rolle spielt. Möglicherweise haben sie aber auch einfach beschlossen, sich am Ort ihrer Wahl durchzuschlagen – allen Widerständen zum Trotz.

Die Atmosphäre muss stimmen

Rüdiger Maier gehört eindeutig zur dritten Kategorie. Er hat in Freiburg ein Lehramtsstudium absolviert, sich sein Studium komplett selbst finanziert – und die Wahl seines Studienorts trotzdem nie bereut. „Mich hat der Lebensstil in Freiburg sofort überzeugt, ich wollte unbedingt bleiben“, sagt der heute 26-Jährige. Die hohen Mieten – in Freiburg liegen sie nach Angaben des Studentenwerks im Schnitt bei 307 Euro im Monat für eine Unterkunft – bereiten ihm am Anfang zwar Bauchschmerzen. Doch er lernt schnell viele Leute kennen und findet nach ein paar Monaten einen gut bezahlten Nebenjob, im zweiten Semester dann auch ein kleines Zimmer in einer Wohngemeinschaft in der Innenstadt. Bundesweit lebt nach Angaben des Studentenwerks ein Drittel der angehenden Akademiker ebenfalls in WGs, 17 Prozent haben eine eigene Wohnung. Jeder Zehnte hat einen Platz in einem Wohnheim bekommen – um den man sich in allen deutschen Unistädten so früh wie möglich bewerben sollte.

Rüdiger Maier rät angehenden Studierenden, vor allem auf die Atmosphäre einer Stadt zu achten. Wenn man dort gerne sei, funktioniere der Rest schon irgendwie. „Je mehr Leute ich in meiner neuen Stadt kenne, desto größer wird die Chance, auch mit einem kleinen Budget gut durch den Alltag zu kommen.“ Ein enger Freund, mit dem er aus Hamburg nach Süddeutschland gezogen war, war von Freiburg weniger begeistert. „Er hat zwar bis zum Bachelor durchgehalten, aber zwei Tage später war er weg.“ Für Maier hat die Umstellung auf die einheitlichen europäischen Abschlüsse vor allem einen Vorteil: „Wer nicht sein gesamtes Studium an einem Ort verbringen will, kann nach dem Bachelor einfach wechseln.“ Vorausgesetzt, er bekommt anderswo einen Studienplatz.

Silvia Fischers Verwandte haben fast alle in Norddeutschland studiert, sie aber wollte etwas Neues sehen. Und hat sich an vielen Wochenenden ein bisschen was vom „Rest“ angeschaut. „Ich war in Tübingen, Freiburg, Köln, Frankfurt und Marburg.“ Dort versucht sie, ein Gefühl für die Städte zu bekommen. „Obwohl das natürlich in zwei Tagen nur begrenzt möglich ist.“ Außerdem will sie herausfinden, wo sich ihr bevorzugtes Fach am besten studieren lässt. Sie liest die einschlägigen Rankings, aber es ist ihr auch wichtig, mit Studierenden vor Ort zu reden. Zum Beispiel darüber, wie viel Zeit sich die Dozentinnen in der Sprechstunde nehmen, wie die Bibliotheken ausgestattet sind – und ob der Sprachunterricht von Muttersprachlern übernommen wird.

Das Leben jenseits des Hörsaals

Kontakt zu Studierenden hat sie zum Teil über Studentenvereine bekommen, aber auch über soziale Netzwerke und Bekannte, die an ihrem Gymnasium in den vergangenen Jahren Abitur gemacht haben. In den Gesprächen, Mails und Chats erfährt Silvia, dass ein Romanistikstudium ganz unterschiedlich aussehen kann. „Je nach Stadt und Fachbereich kann es sehr gut betreut oder sehr anonym sein.“ An manchen Unis sei es schwer, nach zehn Uhr überhaupt noch einen freien Arbeitsplatz in der Bibliothek zu finden oder in der Vorlesung einen Sitzplatz zu erwischen.

Und, auch das wird ihr klar: Es gibt Städte der kurzen und der langen Wege. Die einen spazieren ein paar Minuten von ihrer Wohnung zum Campus, die anderen fahren fast eine Stunde an die Uni. Auch das Leben jenseits des Hörsaals variiert: „Meine Freunde sagten mir, dass es gerade in kleinen Städten schwierig ist, etwas zu unternehmen, das nichts mit der Uni zu tun hat.“ Für sie als Berlinerin sei das schwer vorstellbar.

Die Suche nach einem Nebenjob oder Praktikumsplätzen vor Ort haben ihre Bekannten ganz unterschiedlich erlebt: „Viele haben Jobs als Nachhilfelehrer gesucht, doch leider machen sich die Studierenden dabei oft Konkurrenz.“ Die Alternative sei dann meist Kellnern – unliebsame Nachtschichten inklusive. Je nach Stadt sei es außerdem schwierig, Berufserfahrungen zu sammeln, denn „es gibt oft nur sehr wenige Praktikumsplätze.“

Silvia Fischer hat nach ihrer intensiven Recherche eine Entscheidung getroffen: „Ich möchte am liebsten in Berlin bleiben.“ Hier kann sie weiterhin zu Hause wohnen, ihren Nebenjob behalten, Geld sparen – und dann mit dem Bachelor in der Tasche ihren Master im Ausland machen, am liebsten in Frankreich, Italien oder Spanien.

Als ihr Bruder das hörte, hat er ein bisschen gegrinst und gesagt: „Wer weiß, ob du überhaupt noch mal hier wegkommst.“ Er selbst ist nach dem Studienabschluss übrigens nach New York gezogen.

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