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Wirtschaft: Keine Bremser der Nation

Die Gewerkschaften versuchen die Interessen ihrer Mitglieder mit gesellschaftlichen Notwendigkeiten in Einklang zu bringen

Die Stimmung ist rüde, die Verhältnisse sind schwierig und die Irritationen mächtig. Es findet in Deutschland kein wirklicher Wettbewerb statt, um die besten Konzepte zur Steigerung der Produktivität und zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Wir erleben statt dessen eine Neuauflage des Schwarze-Peter-Spiels. Und das heißt: Deutschland auf dem Weg in den Gewerkschaftsstaat. Die Gewerkschaften als Bremser der Nation. Die Gewerkschaften, heißt es, behinderten die Schaffung eines passablen Niedriglohnsektors, sie wehrten sich gegen die Übertragung des Hartz-Konzeptes 1:1. Denn laut „Spiegel“ „sind die Gewerkschaften längst zum heimlichen Koalitionspartner avanciert, der bei nahezu allen politischen Gesprächen als unsichtbarer Dritter mit am Tisch sitzt“.

Das Gemeinwohl im Blick

Richtig ist, die Gewerkschaften stellen keine Blankoschecks für die Regierungspolitik aus. Die Aufgabe der Gewerkschaften besteht darin, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Das heißt konkret: Arbeitsbedingungen in diesem Land so zu gestalten, dass den Beschäftigten faire Beteiligung und Mitsprache gesichert sind. Insoweit besteht kein Unterschied zu irgendeiner anderen Interessenorganisation.

Unterschiede aber gibt es hinsichtlich der Gemeinwohlorientierung. Denn die Politik der deutschen Gewerkschaften ist im engeren Sinne nicht klientelistisch, sondern durch gesamtwirtschaftliche Verantwortlichkeit geprägt. Das zeigt sich in der Tarifpolitik: Nie drohten Deutschland jene Inflationsgefahren, die sich in manchen anderen Ländern auf die Ergebnisse der Tarifpolitik zurückführen ließen. Nie war die Tarifpolitik der Gewerkschaften nur darauf ausgerichtet, höhere Löhne zu erreichen, es ging auch darum, Anreize zur Produktivitätssteigerung mit einer gerechten Beteiligung der Beschäftigten zu verbinden. Die geringe Streikhäufigkeit (sie wird nur von der Schweiz und Japan unterboten) und die flexiblen Arbeitszeiten bekräftigen dies. Erinnert sei an die Rolle beim Wiederaufbau, in der Konzertierten Aktion oder bei der Vereinigung Deutschlands. Mit ihrer Politik, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Notwendigkeiten mit den Interessen der Mitglieder in Einklang zu bringen versucht, sind die Gewerkschaften kein Verband wie jeder andere.

Nun kommen die aktuellen Einwände: Die in der Vergangenheit so erfolgreichen Gewerkschaften hätten ihre Zeitgenossenschaft eingebüßt. Stichworte: Mitgliederkrise, schwache Präsenz in kleinen Betrieben und Teilen des Dienstleistungssektors sowie die Krise des Flächentarifvertrages. Offensichtlich befinden sich die deutschen Gewerkschaften in einer Übergangsphase. Sie müssen ihre Instrumente auf den Wandel des Arbeitsmarktes, der Ökonomie und der Gesellschaft einstellen. Wie die Debatte um plurale Arbeitsformen zeigt, stehen sie hier nicht mehr ganz am Anfang.

Tatsächlich hat die Konzentration auf das Leitbild eines Normalarbeitsverhältnisses, das sich auf den männlichen Vollzeitbeschäftigten in der verarbeitenden, großbetrieblichen Industrie oder im öffentlichen Dienst konzentriert, lange Zeit den Blick versperrt. Deshalb fiel es den Gewerkschaften so schwer, abweichende Beschäftigungsformen wie Zeitarbeit, Teilzeitarbeit, Scheinselbstständigkeit oder befristete Beschäftigung als soziale Realitäten anzuerkennen.

Die Gewerkschaften haben durchaus gezeigt, dass sie die Zeichen der Zeit erkennen. Sie sind aber auch jetzt nicht bereit, einen Blankoscheck für die Ausweitung dieser Beschäftigungsformen zu unterschreiben. Müssen sie doch befürchten, dass sich dies zu einem Verdrängungswettbewerb zu Lasten der gegenwärtig Beschäftigten (Drehtüreffekt) auswirkt. Trotzdem wollen sie auch die Chance nutzen, mit diesen neuen Beschäftigungsformen Arbeitslosigkeit abzubauen und die wirtschaftliche Dynamik zu stimulieren. Mit Blick auf die Vorschläge der Hartz-Kommission heißt dies: Es geht darum, das Verhältnis von Chancen und Risiken auszuloten, und durch Tarifverhandlungen einen Kompromiss zu erzielen. So haben die Gewerkschaften schon längst deutlich gemacht, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit das eine ist – und besondere Bedingungen für Langzeitarbeitslose und Ungelernte das andere. Aber wie schaffen wir mehr Beschäftigung und zugleich faire Bedingungen, die für die Betroffenen auch motivierend sind?

Die Gewerkschaften haben die Dynamik des Arbeitsmarktes, Veränderungen von Berufsbiographien und Lebensstilen längere Zeit unterschätzt. Damit stehen sie nicht allein; vielmehr drückt sich darin auch die im internationalen Vergleich außerordentliche große Industrielastigkeit der deutschen Ökonomie aus. Während der exportorientierte industrielle Sektor in Deutschland gut organisiert ist, trifft dies auf den Dienstleistungssektor nicht zu. Um auf die Herausforderungen der Dienstleistungs- und Wissensökonomie angemessen reagieren zu können, bauen die Gewerkschaften jetzt ihre Strukturen um. Aus den früher einmal 15 Gewerkschaften sind acht geworden; wichtigstes Indiz für organisatorische Neuerungsfähigkeit ist dabei die Gründung von Verdi.

Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ist in vielen Feldern einer hochkomplexen Konfliktstruktur gewichen, in der auch internationale Faktoren eine immer größere Rolle spielen. Durch die weltwirtschaftliche Entwicklung, durch den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt und die besonderen Lasten der deutschen Einheit sind die Handlungsmöglichkeiten der deutschen Akteure beschränkt. Notwendig sind deshalb strategische Allianzen. Diese dürfen sich nicht auf einen scheinbaren Königsweg (wie den Niedriglohnsektor) fixieren, wollen sie sich nicht reformpolitisch blockieren. Klar ist aber auch: Arbeitsmöglichkeiten für Niedrigqualifizierte zu schaffen, ist eine Aufgabe erster Ordnung. Um neue Armut zu verhindern, können dabei in einzelnen Fällen staatliche Zuschüsse notwendig sein. Primär sollte es aber darum gehen, durch bessere Qualifikationen gute Arbeit zu schaffen, die den Lebensunterhalt sichert. Denn - so eine Studie der OECD - mit Niedriglöhnen handelt man sich mehr Verarmung und soziale Probleme ein, als Fortschritte auf dem Arbeitsmarkt. Es geht also um gezielte Maßnahmen für Niedrigqualifizierte. Darüber hinaus entscheidet die Frage der Qualifikation über unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die soziale Integrationsfähigkeit.

Sehnsucht nach starken Gesten

Der Schlüssel zum Verständnis gewerkschaftlicher Stärke in Deutschland ist ihre betriebliche Verankerung bei gleichzeitiger Fähigkeit, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Einfluss auszuüben. Wenn die Gewerkschaften nicht ihren eigenen Anspruch als linke und reformorientierte Kraft des Wandels aufgeben wollen, sind sie dazu verdammt sich zu wandeln und auf neue Verhältnisse zu reagieren. Doch die Art, wie beispielsweise mit den Ergebnissen der Hartz-Kommission umgegangen wird, lässt einigen Zweifel am demokratischen Imperativ aufkommen. Denn die Pauschalvorwürfe gegen die Gewerkschaften zeigen eher die Konzeptionslosigkeit mancher konservativer Irr-Geister, die wohl die Sehnsucht nach starken Gesten und autoritären Führern zu leiten scheint und weniger die Suche nach Konzeptionen unter den Bedingungen demokratischer Aushandlungspolitik. Zur verhandelten Reform kann es keine Alternative geben, es sei denn, man beabsichtigt ein Beschleunigungsregime zu installieren, wobei Parlament und verbändeorientierte Verhandlungspolitik durch eine Räterepublik ersetzt werden. Der Preis für diese Entwicklung wäre: Schnellere und kosmetisch bessere Gesetze gegen schlechtere Umsetzung.

Der Sozialwissenschaftler Wolfgang Schroeder leitet das Ressort Europäische Tarifpolitik der IG Metall in Frankfurt (Main).

Wolfgang Schroeder

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