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Wirtschaft: Kräuterstadt Berlin: Feinschmecker entdecken die Wiese

Beim Essen ist es wie mit der Mode: Trends kommen und gehen. Während man die Schlaghose der 70er Jahre in den 80ern ablehnte, war sie kürzlich wieder angesagter denn je.

Beim Essen ist es wie mit der Mode: Trends kommen und gehen. Während man die Schlaghose der 70er Jahre in den 80ern ablehnte, war sie kürzlich wieder angesagter denn je. Eine ähnliche Geschichte hatte der Rucola-Salat: Von den Römern besonders gepriesen als heilendes, verdaungsförderndes und die Liebeskraft steigerndes Pflänzchen, war es zwischenzeitlich als Arme-Leute-Essen verpönt. Nicht mehr heute: Das grüne Kraut erlebte einen Boom. Der Verbrauch pro Haushalt hat sich in Deutschland innerhalb der letzten vier Jahren verdoppelt. Mit 20 Prozent hat der Salat eine der höchsten Zuwachsraten auf dem deutschen Gemüsemarkt.

Kaum hat sich die italienische Rauke auf dem deutschen Markt etabliert, kommt auch schon der nächste Trend: die Wildkräuter - vielen auch als Unkraut bekannt. Während mancher Hobbygärtner sich über das lästige Jäten von Giersch ärgert, freut sich der Feinschmecker auf einen Salat mit dem grünen Kraut. Vor allem jetzt im Frühling, wo Bärlauch, Sauerampfer oder Gundermann Hochsaison haben, preisen Gourmets und Gesundheitsbewusste diese Pflanzen als Delikatesse. "Vor zehn Jahren habe ich pro Woche höchstens eine Kiste Bärlauch verkauft, da kannte das kein Mensch", sagt Adrian Schnelle, der den Kräuter-Großhandel Ernst und Schlosser auf dem Berliner Fruchtmarkt leitet. "Inzwischen sind es in der Saison wöchentlich 100 Kisten." Auch im Berliner Kaufhaus des Westens (KaDeWe) verkaufe sich der nach Knoblauch schmeckende Lauch bestens, sagt KaDeWe-Gemüseeinkäufer Klaus Bernhardt. Und das, obwohl er mit 20 Euro pro Kilogramm doppelt so teuer wie Knoblauch ist.

Noch sind die wilden Kräuter allerdings ein "Spezialangebot", sagt Schnelle. Bärlauch ist zwar inzwischen so etabliert, dass es ihn auch bei Karstadt gibt. Sucht man aber Ackerveilchenkraut, Engelwurz oder Giersch, muss man schon selbst ins Grüne fahren, im eigenen Garten suchen oder auf einen gut sortierten Markt gehen. "Die Wildkräuter sind eine Marktnische", sagt Kolja Kleeberg, Chefkoch des Berliner Nobelrestaurants "Vau". Um seinen Wildkräutersalat aus Bronzefenchel, Giersch, Brunnenkresse und Ackersenf anbieten zu können, ist er Kunde von "Essbare Landschaften" geworden - die Einzigen, die die Kräuter via Internet verkaufen. Die einzige Alternative für ihn ist der "Kräuter-Hans", der mit dem Fahrrad durch das Berliner Umland fährt, die Kräuter sammelt und den Restaurants verkauft.

Die Spitzenköche waren maßgeblich daran beteiligt, die Nachfrage nach Wildkräutern zu schaffen. "Die Leute, die die Kräuter kaufen, haben sie meist zuvor im Restaurant gegessen", sagt KaDeWe-Einkäufer Bernhardt. Außerdem sehnen wir uns nach Abwechslung. "Früher hat uns der Nahrungshunger dazu getrieben, genau diese Kräuter zu essen", sagt Udo Pollmer, Ernährungswissenschaftler am Europäischen Institut für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften. Jetzt sei es der individuelle Erlebnishunger, der uns zu neuen kulinarischen Experimenten treibe, konstatiert Pollmer. Unterstützt wird die neue Kräutersehnsucht vom allgemeinen Trend hin zum Gemüse: "Der Konsum von Frischgemüse steigt in Deutschland kontinuierlich", sagt Christoph Behr von der Zentralen Markt- und Preisberichtstelle (ZMP) in Bonn. Die gekaufte Menge pro Haushalt pro Jahr habe sich von 57 Kilogramm 1992 auf 67 Kilo im Jahr 2001 erhöht. Schließlich ist Gemüse gesund - das gilt auch für Wildkräuter. "Die Wildkräuter speichern zwar verhältnismäßig viele Nitrate", sagt Bernhard Watzl von der Bundesforschungsanstalt für Ernährung. Jedoch esse man sie wegen ihres intensiven Geschmacks nur in geringen Mengen. "Die positiven Effekte von Vitaminen und sekundären Pflanzenstoffen überwiegen."

Insgesamt gaben die Deutschen im vergangenen Jahr laut ZMP 3,25 Millarden Euro für frisches Gemüse aus. Spitzenreiter ist die Tomate. Und die ist schon seit so langer Zeit etabliert, dass nicht einmal Trendgemüse wie Giersch, Bärlauch oder Wegerich sie von ihrem Platz verdrängen können.

Flora Wisdorff, Dagmar Rosenfeld

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