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Krankenversicherung: Der durchleuchtete Patient

Private Krankenversicherungen überprüfen ihre Kunden. Dafür sollen die Patienten ihre Ärzte von der Schweigepflicht entbinden

Helga Sommer leidet unter angeborener Skoliose, einer seitlichen Verdrehung der Wirbelsäule. Wegen ihrer Krankheit möchte sie ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Seit 20 Jahren ist Helga Sommer wegen ihrer Skoliose in Behandlung. Sie bekommt Massagen und geht zur Krankengymnastik.

Jahrelang zahlte ihre private Krankenversicherung, die Debeka, die Behandlungen anstandslos. Doch vor einigen Monaten forderte die Gesellschaft plötzlich einen Bericht ihrer behandelnden Ärzte an – zu Prüfzwecken. „Ich bin gern bereit zu beweisen, dass ich keine Wellness auf Kosten meiner Versicherung mache“, sagt Sommer. Doch die von der Debeka beigefügte Erklärung über die Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht verschlug der Übersetzerin die Sprache. Umfänglich sollte sie Ärzte, Pflegepersonen, Versicherer und Behörden von der Schweigepflicht entbinden – ohne irgendeine zeitliche oder inhaltliche Beschränkung. Der Patientin ging das entschieden zu weit: „Ich wollte diese Erklärung nicht unterschreiben“, sagt Sommer. „Es kam mir vor, als solle hier die ärztliche Schweigepflicht hintenherum ausgehebelt werden.“

Zwar bot ihr die Debeka nach jedem Absatz die Möglichkeit, diesen Passus zu streichen, aber das verunsicherte Sommer noch mehr: „Ich wusste gar nicht, was ich hätte wegstreichen können oder sollen“, erzählt sie. Zudem drohte die Versicherung damit, dass es bei fehlenden Informationen zu Verzögerungen bei der Bearbeitung kommen könne oder gar zu Leistungskürzungen.

Für den Orthopäden Stephan Tremml ist das nichts Neues. Er hat in den vergangenen Monaten eine auffällige Häufung von Fällen beobachtet, in denen Privatversicherer auf Entbindungen von der Schweigepflicht drängen. Tremml glaubt nicht an einen Zufall. „Das wirkt auf mich wie eine konzertierte Aktion, als hätten sich die Versicherer abgesprochen“, sagt er. Natürlich hätten die privaten Kassen ein Recht auf Überprüfung, räumt Tremml ein. Aber: „Mein Eindruck ist, dass es hier darum geht, Leistungen zu kürzen – die treten auf die Kostenbremse“, sagt er. Der Leistungsumfang der Versicherung würde so durch die Hintertür geschmälert.

Das streitet die Debeka entschieden ab. „Wir halten nur Rückfragen zur Leistungsklärung“, sagt Reinhard Wüstenberg, Leiter der Leistungsabteilung. „Es gibt keine Anweisung in unserem Haus, dass vermehrt geprüft werden soll.“

Tremml hält das Vorgehen der privaten Krankenversicherer für problematisch. Viele Patienten würden aus Angst unterschreiben, Leistungen zu verlieren, berichtet der Orthopäde aus seiner Erfahrung. Aber auch er als der Arzt hat Probleme. Wenn die Formulierungen so allgemein gehalten seien, wisse er trotz der Entbindung von der Schweigepflicht manchmal nicht genau, was er sagen dürfe und was nicht. „Ich muss da sehr aufmerksam sein“, sagt er.

Die Kritik fällt bei der Debeka auf fruchtbaren Boden. Man arbeite daran, die Erklärungen patientenfreundlicher zu machen, sagt Wüstenberg. Die alten Schreiben orientieren sich an einem Entwurf des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Den will die Debeka nun so „auseinanderpflücken“, dass ein genauerer Zuschnitt auf den Einzelfall möglich wird. „Im ersten Quartal wollen wir damit fertig sein“, verspricht Wüstenberg.

"Wir versuchen die Quadratur des Kreises"

Aus purer Kundenfreundlichkeit macht die Versicherung das aber nicht, der Konflikt hat auch juristische Gründe: Die Entbindungserklärungen der privaten Krankenversicherer haben für Konflikte mit den Datenschützern gesorgt und sind auch beim Bundesverfassungsgericht durchgefallen. Schon 2006 urteilte Karlsruhe, niemand dürfe dazu gezwungen werden, seine Ärzte pauschal von ihrer Schweigepflicht zu entbinden. Es müsse möglich sein, die Erklärung auf bestimmte Krankheiten oder einzelne Ärzte zu beschränken. Bei den gesetzlichen Kassen ist das übrigens anders: Ihnen gibt die Sozialgesetzgebung vor, wie sie mit den Daten ihrer Versicherten umzugehen haben.

Kürzlich einigten sich die Datenschutzbeauftragten der Länder und der GDV auf einen neuen Entwurf. Danach sollen die Patienten genau entscheiden können, wer inwieweit von seiner Schweigepflicht befreit werden soll. Außerdem sollen sie in Zukunft vor einer Übermittlung ihrer Daten darüber informiert werden. Wenn der Arzt zum Beispiel Informationen an die Lebensversicherung gibt, erfährt der Patient das vorher und kann widersprechen, wenn er das will.

Die Versicherer müssen sich zwar nicht an den neuen Entwurf halten, aber sie sind gut beraten, es zu tun. Denn dann haben sie Rechtssicherheit. „Wir versuchen hier die Quadratur des Kreises“, sagt Thilo Weichert, Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein. Die Anforderungen in einem Versicherungsunternehmen seien so komplex, dass sie ein Laie nicht verstehen könne. Gleichzeitig sei aber das Datenschutzgesetz gerade in Gesundheitsfragen so streng, dass es mit den alltäglichen Anforderungen im Unternehmen kaum in Einklang zu bringen sei, meint Weichert.

Doch selbst, wenn ein Versicherer einem Versicherten eine zu weitreichende und damit rechtswidrige Erklärung vorlegt, darf man diese nicht einfach ignorieren. „Wenn Mitwirkungspflichten verletzt werden, können im schlimmsten Fall Leistungen gekürzt oder gar nicht erst bewilligt werden“, sagt Andrea Fabris, Juristin bei der Unabhängigen Patientenberatung. Trotzdem sollte man aber nicht alles unterschreiben, was die Kassen zuschicken.

Grundsätzlich rät die Juristin: „Man sollte nur so wenig wie möglich preisgeben.“ Der Patient solle seine Einwilligung auf einen bestimmten Arzt, einen gewissen Zeitraum und die fragliche Erkrankung beschränken. Eine andere Möglichkeit: Sich vom Arzt alle Berichte und Befunde geben lassen und selbst mit dem Medizinischen Dienst kommunizieren. Das ist zwar sehr aufwändig, aber theoretisch möglich.

Helga Sommer hat Rat bei ihrem Orthopäden bekommen. Sie formulierte die Erklärung der Debeka um und sandte eine deutlich abgespeckte Variante an die Versicherung. Die konnte trotzdem prüfen – und Sommer bekommt ihre Massagen nach wie vor.

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