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Prothesen werden immer individueller - auch optisch. Vor allem aber sind sie weit funktionaler als früher.

© p-a/dpa

Leben mit Behinderungen: Hilfsmittel werden immer ausgefeilter

Mikrochip im Bein, Mischpult im Ohr: Menschen mit Behinderungen können immer modernere Hilfsmittel nutzen. Auch Apps erobern den Markt.

Soll ich Ihre Hörgeräte nochmal reinigen?“ Lauter und deutlich wendet sich Lisa Pöthig an den älteren Mann, der gerade ein paar neue Batterien bei ihr gekauft hat. „Wie bitte?“, fragt er. Die Akustikerin wiederholt geduldig, nach dem dritten Mal versteht sie ihr Kunde. Ohne sein Hörgerät wäre der Mann im Alltag stark eingeschränkt. Wie in einer Wattewolke, abgeschirmt vom Rest der Welt: Das Leben mit Schwerhörigkeit oder Taubheit ist nach Ansicht von Lisa Pöthig mehr als nur das Fehlen von Lauten und Tönen. „Nicht hören zu können, macht vor allem einsam.“ Weil Hörprobleme nicht immer offensichtlich seien, erfahren Betroffene oft Unverständnis.

Hörgeräte können zwar nie die gesunden Organe ersetzen, aber sie bringen ein Stück Normalität ins Leben der Patienten. Die Krankenkassen übernehmen für Erwachsene Kosten bis zu 785 Euro. Im vergangenen Jahr haben sie nach Angaben des Branchenverbandes GKV mehr als 71 Millionen Euro allein für Hörhilfen ausgegeben. Bei vielen Kassen rangieren sie unter den drei größten Ausgabeposten im Bereich der Hilfsmittel.

Das Hörgerät als Mischpult

Immer kleiner und unauffälliger werden die Geräte, aber sie haben es in sich. „Fast wie ein DJ–Mischpult“, erklärt Pöthig. Es gibt verschiedene Frequenzen für Sprache und Signalgeräusche, die Mikrofone fokussieren auf Stimmen, und die Lautsprecher werden immer besser. Modernste Modelle können über Bluetooth mit dem Handy bedient werden. „Man kann damit direkt Musik hören.“ Pöthig empfiehlt ihren Kunden außerdem laute Wecker, blinkende Rauch- und Klingelmelder und vibrierende Babyfone.

Für Hilfsmittel haben die gesetzlichen Krankenkassen laut GKV-Statistik im Jahr 2012 insgesamt rund 6,5 Milliarden Euro ausgegeben – eine Milliarde Euro mehr als noch fünf Jahre zuvor. Im gemeinsamen Verzeichnis der Kassen sind mehr als 28.500 Produkte eingetragen– von Absauggeräten über Lagerungshilfen bis hin zum Toilettengestell.

Jedes Stück Handarbeit

Sanitätshäuser sind wichtige Anlaufstellen für Menschen, die aufgrund einer Behinderung spezielle Geräte, etwa eine Prothese, benötigen. Das Rezept dafür stellt der Arzt aus, hergestellt und angepasst wird die Hilfe aber von Orthopädietechnikern in Sanitätshäusern. Die Arbeit an Prothesen und Orthesen, also Stützen für gelähmte Gliedmaßen, ist immer noch echte Handarbeit – auch wenn heute kaum noch Leder und Metall zum Einsatz kommen. „Die Stücke bestehen aus Carbonfasern, die mit Stoff und Folie ummantelt werden“, erklärt Tim Sievers, der in der Großorthopädiewerkstatt des Sanitätshauses Ortmaier in Zehlendorf eine Ausbildung macht. Er hält einen fast fertigen Oberschenkelapparat hoch, der künftig ein Bein stützen soll. Fast sechs Wochen Arbeit stecken darin. Zwischen 8000 und 10 000 Euro wird die Orthese am Ende kosten, in der Regel zahlen die Kassen.

Vom Rollstuhl in den Maserati

Prothesen werden immer individueller - auch optisch. Vor allem aber sind sie weit funktionaler als früher.
Prothesen werden immer individueller - auch optisch. Vor allem aber sind sie weit funktionaler als früher.

© p-a/dpa

Gerade Prothesen sind längst mehr als steife Kunststoffkonstruktionen. Immer häufiger enthalten sie Mikroprozessoren, die automatisch verschiedene Programme ausführen. Treppensteigen, zum Bus rennen, rückwärts gehen: Was früher mit Prothese kaum möglich war, ist heute neuester Stand der Technik beim Marktführer Ottobock, dessen Prothesensysteme auch im Zehlendorfer Sanitätshaus verbaut werden. Mit Anpassung und Versorgung kostet das High-End-Produkt Genium X3 nach Angaben von Ottobock etwa 50 000 Euro. Auch das übernimmt die Kasse, wenn der Patient aktiv ist und einen Beruf ausübt.

Wer nicht selbst laufen kann, ist auf den Rollstuhl und bei weiteren Strecken zusätzlich auf Transportdienste angewiesen – es sei denn, man besteht eine spezielle Fahrprüfung und besitzt ein eigens ausgebautes Auto. Nicht weit vom Kottbusser Tor betreibt Holger Witzelsburger die Werkstatt Reha mobil. Hier werden Wagen jeder Art behindertengerecht umgerüstet – nicht nur bodenständige Vans, sondern auch sportliche Flitzer. Selbst ein Maserati wurde schon für einen Rollstuhlfahrer ausgerüstet.

Nicht immer zahlt die Kasse

Witzelsburger bleibt vor einem schwarzen Audi A6 mit 450 PS stehen. Hier sollen noch ein Handbediengerät am Lenkrad und eine Schwenkvorrichtung für die hintere Tür eingebaut werden. „Dann kann der Kunde seinen Rollstuhl eigenständig vom Vordersitz aus auf die Rückbank bugsieren“, erklärt der studierte Wirtschaftsingenieur. Bis zu 80.000 Euro kann ein Umbau kosten, etwa wenn ein Joystick eingebaut wird, mit dem Beschleunigen, Bremsen und Lenken auch gelingt, wenn der Fahrer weitgehend gelähmt ist und wenig Kraft hat. Die behindertengerechte Umrüstung bezahlen die Kassen aber nur, wenn ein Behindertentransport durch einen externen Anbieter auf Dauer teurer wäre. Das ist nicht immer der Fall, oft müssen Witzelsburgers Kunden für den Umbau daher in die eigene Tasche greifen. Doch vielen bedeutet das Stück Selbstständigkeit eine Menge – die Auftragslage der Werkstatt sei gut.

Eine App, die Socken sortiert

Viel Platz braucht Jan Blüher für seine Arbeit indes nicht. Der Informatiker beschäftigt sich mit Smartphone-Apps, die Blinden und Sehbehinderten den Alltag erleichtern sollen. Angefangen hat der Dresdner vor fast zwei Jahren mit einer Farberkennungs-App, die passgenau auf die Bedürfnisse seiner Zielgruppe zugeschnitten ist. Weil er selbst blind ist, weiß Blüher, worauf es ankommt: Schlicht und gut aufgeräumt muss eine App sein, damit sie via Stimmbedienung einfach und schnell funktioniert. Auch kann nicht jeder Sehbehinderte etwas mit der Bezeichnung „helles Olivgrün“ anfangen, deshalb gibt es die Möglichkeit, nur Grundfarben ansagen zu lassen. Blüher selbst benutzt die Anwendung, um etwa Wäsche zu sortieren. Zwar sei die App wegen der begrenzten Möglichkeiten der Handykameras nicht so genau wie kalibrierte Farberkennungsgeräte, dafür aber wesentlich günstiger. „So ein Gerät hat man außerdem nicht überall dabei – das Handy allerdings schon.“

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