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Wirtschaft: Lena Luetgebrune

(Geb. 1993)||Sie lernte zu sitzen, zu laufen, zu sprechen. Dann verlernte sie es wieder.

Sie lernte zu sitzen, zu laufen, zu sprechen. Dann verlernte sie es wieder. Bei Ebbinghaus am Walther- Schreiber- Platz stand ein Schaukelpferd. Das musste man mit Groschen füttern, damit es sich bewegte. Rainer, Lenas Vater ließ viele Groschen bei dem gefräßigen Tier. Als Lena größer war, hatte sie in der Hippotherapie mit echten Pferden zu tun. Doch da konnte sie schon nichts mehr sehen und sagen.

Sabine und Rainer hatten gehofft, gebetet, dass bei Lena die Krankheit nicht ausbricht. Kurz nach ihrer Geburt hatten sie von den defekten Genen, die in ihnen schlummerten, erfahren. Da wurde die Krankheit bei Nico, Lenas großem Bruder, diagnostiziert: Neuronale Ceroid-Lipofuszinose. Eine Stoffwechselkrankheit, ein Fall auf 30 000 Geburten. Sie bricht nicht sofort aus. Sie endet immer tödlich.

Genauso gut wie Schaukeln fand Lena Abwaschen. Eingepackt in ihre blaue Plastikschürze stand sie auf dem Stuhl und fuhrwerkte mit Schwamm, Schaum und Geschirr herum. Wenn Rainer ihr zur Hand gehen wollte, verteidigte sie entschieden ihr Abwasch-Reich.

Sie dirigierte die Menschen um sich, den Vater beim Ballspielen, die Mutter beim Staubsaugen. Sie umsorgte den kranken Bruder wie eine Puppe, neckte ihn ein wenig, als er sich schon nicht mehr richtig bewegen konnte. Sabine hatte Angst um Lena. Rainer war überzeugt: Unserer Lena geht es so gut, die wird nicht krank.

Eines Tages stolperte Lena merkwürdig tattrig über ihre Beine. Da war sie dreieinhalb.

Zuerst verlor sie das Augenlicht, dann nach und nach die Fähigkeiten, die sie gerade erlernt hatte: Laufen, Sitzen, Sprechen. Lena wehrte sich. Sie hielt sich Bücher vors Gesicht, als könne sie die Seiten noch erkennen. Sie wurde wütend, als sie nicht einmal mehr an der Milchflasche saugen konnte. Die Schübe waren, wenn sie kamen, gnadenlos. Ihre Sprache verlor Lena innerhalb von zwei Wochen. Erst hieß Sabine noch Mama. Dann Ma. Schließlich konnte Lena gar nichts mehr zur Mama sagen.

Rainer zeigt die Fotos: Lena als kleine Nixe am Strand, Lena im Reha- Buggy auf Mallorca, Lena im letzten Frühjahr im Garten, schwerbehindert im Rollstuhl.

Sie kam mit sechs in eine Integrationsklasse. Lesen und schreiben konnte sie nicht lernen. Dafür, was Zusammenhalt bedeutet. Kein Ausflug, kein Theaterprojekt ohne sie. Wenn die Mitschüler sie bei Bühnenaufführungen wild hin- und herschoben oder für sie zum Geburtstag eine Abba-Show veranstalteten, gab Lena keinen Mucks, kein Husten von sich. Sie ging gern zur Schule. Einzig als der Bruder starb, da war sie acht, wollte sie monatelang auch dort nicht hin.

Es brach der letzte Sommer der Grundschule an. Die Mitschülerinnen trugen inzwischen Ausschnitt und Lippenstift und wechselten aufs Gymnasium. Auch Lena war sehr hübsch. Zarte Gesichtszüge, helle Haut, schöne mandelförmige Augen, gewellte Haare, in die Rainer bunte Bänder flocht. Sie ging nach den Ferien kurz in eine Sonderschule.

Die Krankheit schritt unerbittlich voran. Erstickungsanfälle, epileptische Anfälle, Panikattacken. An einem Mittwoch im Dezember ging es ihr besonders schlecht. Die Ernährungssonde war im September gewechselt worden, der Arzt hatte noch gesagt, alles sei bestens. Nun kam eine Entzündung auf. Am Donnerstag bekam Lena Fieber. Auf die Musiktherapeutin am Freitag reagierte sie kaum noch. Auch das Penicillin von Samstag half nicht. Am Montag kam sie ins Krankenhaus. Am Dienstag starb Lena.

Sie waren zu fünft im Zimmer: Sabine, Rainer, eine Freundin und der Klassenlehrer. In einem letzten Kraftakt riss Lena, wie zur Verabschiedung, noch einmal die Arme hoch. Sie wollte nicht gehen.

Ebbinghaus am Walther-Schreiber- Platz gibt es nicht mehr, das Schaukelpferd ist fort. Zu Hause ist alles so, wie Lena es verlassen hat. Nur das Inhalationsgerät, das auf dem Küchentisch stand, und den großen Rollstuhl haben die Eltern weggeräumt. Ihr Leben war auf Lena eingestellt, und jetzt ist da, wo Lena war, ein großes Nichts.

Veronika de Haas

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