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Wirtschaft: „Manipulation ist zum Breitensport geworden“

Herr Miegel, wir reden viel über Reformen auf dem Arbeitsmarkt. Aber niemand sagt, was als Erstes getan werden muss direkt nach der Wahl.

Herr Miegel, wir reden viel über Reformen auf dem Arbeitsmarkt. Aber niemand sagt, was als Erstes getan werden muss direkt nach der Wahl. Was ist es?

Es gibt kein erstens, zweitens oder drittens. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben sich über einen langen Zeitraum hinweg entwickelt, es sind wirkliche Strukturprobleme. Die kann man nicht mit einem Paukenschlag aus der Welt schaffen. Ich halte es auch für problematisch, an die neue Regierung solche Maßstäbe zu legen. Die Regierung muss ein umfassendes Programm durchsetzen und das besteht aus vielen Teilen.

Die jetzige Regierung hat uns doch Hoffnung gemacht, dass mit der umfassenden Reform der Bundesanstalt für Arbeit ein Schub kommen wird.

Gelänge eine solche Reform der Bundesanstalt, könnte der Schub durchaus beträchtlich sein. Aber bisher lässt sie ja noch auf sich warten. Die Gewerkschaften haben auch schon Widerstand angekündigt.

Wo fängt man an?

Ganz wichtig ist neben anderem die Erschließung des Niedriglohnbereichs. In diesem Bereich könnten Millionen von Arbeitsplätzen entstehen, Arbeitsplätze in der Hauswirtschaft, in der Landwirtschaft oder bei Pflegediensten. Allein in diesen Bereichen werden jährlich eine Million Sondergenehmigungen an Nicht-EU-Ausländer erteilt, weil sie von ansässigen Arbeitskräften nicht besetzt werden. Ansässigen Arbeitskräften sind sie zumeist nicht attraktiv genug.

Warum?

Es sind Arbeitsplätze, die in Deutschland in den Untergrund gedrängt worden sind. Zwar werden in vielen Fällen die Arbeiten erbracht, aber das wird auf dem Arbeitsmarkt nicht sichtbar.

Sie meinen Schwarzarbeit?

In der Tat. Hinzu kommen Eigenarbeit und hauswirtschaftliche Tätigkeiten. Doch würde allein das, was im Bereich der Schwarzarbeit erwirtschaftet wird, durch Vollzeitbeschäftigte erledigt, würde die Zahl der Vollzeitbeschäftigten um etwa sechs Millionen steigen. Da jedoch in der Regel Schwarzarbeiter nicht vollzeitbeschäftigt sind, kann davon ausgegangen werden, dass in Deutschland zwischen acht und zehn Millionen Menschen mit einer gewissen Regelmäßigkeit schwarz arbeiten. Diese Schwarzarbeiter brauchen selbstverständlich Auftraggeber. Und das bedeutet, dass hierzulande viele Millionen Menschen als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer auf dem Schwarzmarkt engagiert sind.

Das heißt, wir haben kein Arbeitsmarktproblem, wir sind nur ein bisschen kriminell?

Formal betrachtet ist das natürlich kriminell. Aber ganz offensichtlich ist die Gesellschaft von der bestehenden sozialen Ordnung überfordert. Das ist Teil des strukturellen Problems. Auf dem Schwarzarbeitsmarkt werden in der Regel wirtschaftlich angemessene Preise bezahlt. Was unterbleibt, ist die Finanzierung des Staates und seiner Sozialsysteme. Dem entziehen sich sowohl Auftraggeber als auch Auftragnehmer. Sie haben versucht, sich jenseits von sozialstaatlichen Bindungen einzurichten.

Das heißt, dass ungefähr 16 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung nur steuer- und abgabenfrei zu leisten sind?

Das ist nicht nur ein Problem von 16 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung, sondern ein viel grundsätzlicheres. Die Überfrachtung von Arbeit mit Steuern und Sozialabgaben stellt sich ja nicht nur bei der Schwarzarbeit, sondern in der gesamten Wirtschaft. In den Fünfzigerjahren verblieben dem Arbeitnehmer von 100 erarbeiteten Mark 75. In den Siebzigerjahren waren es noch 65, heute sind es nur noch knapp 50. Seit zwanzig Jahren steigen die Bruttoarbeitseinkommen ständig an, aber die Gesamtheit aller abhängig Beschäftigten Westdeutschlands bringt keine höhere Kaufkraft mit nach Hause als vor zwei Jahrzehnten. Wenn es gelänge, die Bruttoeinkommen zu senken und möglichst gleichzeitig die Nettoeinkommen steigen zu lassen, wäre ein Großteil des Problems gelöst.

Sind denn dann all die Versuche auf dem Arbeitsmarkt überflüssig?

Natürlich nicht. Ich habe hier nur einen wichtigen Teilbereich angesprochen. Ein anderer ist die extrem lange durchschnittliche Vermittlungsdauer von Arbeitslosen. Wenn es gelänge, diese Vermittlungsdauer um nur eine Woche zu verkürzen, dann verminderte sich die Arbeitslosenzahl um rund 100000. Mit anderen Worten: Die ausgesprochen schlechte Vermittlungsbilanz der Arbeitsämter muss dringend verbessert werden.

Wie funktioniert das Mainzer Modell, mit dem subventionierte Arbeit im Niedriglohnbereich geschaffen werden soll?

Ich habe nichts gegen dieses Modell. Aber niemand sollte die Illusion hegen, dass damit die Probleme gelöst wären. Denn entweder sind solche Modelle bezahlbar – dann bewirken sie wenig. Oder es kommt zu wirklichen Beschäftigungseffekten – dann kosten sie extrem viel Geld.

Sind wir denn besser dran, wenn wir uns statt dessen Schwarzarbeiter leisten?

Das hängt davon ab, welches Menschen- und Gesellschaftsbild verfolgt wird. Heute ist es doch so, dass ein ganz regulärer Chef zu ganz regulären Arbeitnehmern sagt: So Jungs, wir haben eine 35-Stunden-Woche, und wenn die abgearbeitet ist, dann arbeiten wir noch fünf Stunden länger, und was dabei herauskommt, gibt es ohne Abzüge auf die Hand. Schwarzarbeit ist doch in diesem Land längst nichts Isoliertes mehr, sondern sie hat das Wirtschaftsleben in großem Umfang durchsetzt. Die Folge: Der Sozialstaat wird systematisch untergraben.

Wie viel würden die Bürger freiwillig bezahlen?

Jedenfalls nicht so viel, wie ihnen heute abverlangt wird. Das Manipulieren von Rechnungen, Arbeitsverträgen, Steuererklärungen und dergleichen ist doch mittlerweile zum Breitensport geworden. Die Bevölkerung befindet sich doch in einer permanenten Rebellion gegen sich selbst. Auf der einen Seite fordert sie alle möglichen Leistungen, auf der anderen Seite taucht sie ab, wenn es darum geht, für diese Leistungen herangezogen zu werden.

Brauchen wir mehr Polizei und härtere Strafen?

Solchem Vorgehen sind in einem freiheitlichen Gemeinwesen enge Grenzen gesetzt. Ein Polizeistaat verträgt sich nicht mit einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung, wie wir sie haben.

Was müssen wir tun?

Das System hat in weiten Teilen seine Einsichtigkeit verloren und die muss wieder hergestellt werden. Viele Menschen kennen ganz einfach die Zusammenhänge nicht. Die Politik war immer bemüht, diese Zusammenhänge zu verschleiern, denn nur so konnte der Eindruck erweckt werden, als ob die Bürde der Bürger gering und die Leistungen des Staates groß seien. Der Staat brauchte das, um sich vor seinen Bürgern zu legitimieren. Doch inzwischen hat sich diese Vorgehensweise als Bumerang erwiesen.

Sind wir den wenigstens bei der Arbeitsverwaltung auf dem richtigen Weg?

Hier hat der neue Vorstand einige bemerkenswerte Schritte in Aussicht gestellt. Aber die Unterstützung der Gewerkschaften ist nur lau. Die Gewerkschaften sind bei der anstehenden Reform ein Hemmschuh.

Warum?

Sie unternehmen alles, damit die Dinge möglichst so bleiben, wie sie waren, als der gewerkschaftliche Einfluss am größten war. Dass diese Zeiten längst vorbei sind, haben viele noch nicht begriffen.

Muss man die Gewerkschaften in den Sozialversicherungen entmachten?

Die Antwort liegt doch auf der Hand. Mittlerweile ist nur noch etwa jeder fünfte abhängig Beschäftigte gewerkschaftlich organisiert. Und wenn man von diesem Fünftel alle jene abzieht, die faktisch nur noch Mitläufer sind, dann schrumpft der gewerkschaftlich harte Kern auf vielleicht vier oder fünf Prozent der Arbeitnehmerschaft. Da stellt sich doch schon die Frage, wieso diese winzige Minderheit dazu kommt, in allen diesen sozialen Sicherungsbereichen mitzumischen. Die sollen ja nicht entmachtet werden, aber derzeit ist ihr Einfluss viel zu groß.

Sehen Sie in irgendeiner Regierungskonstellation nach dem 22. September eine Chance, dass sich daran etwas ändert?

Nicht so, wie Sie sich das vielleicht jetzt vorstellen. Die Sache wird sich anders entwickeln. Nämlich durch die Auflösung des Arbeitgeberlagers.

Die wir seit zwanzig Jahren erwarten.

In Ostdeutschland haben sich bereits viele Unternehmen aus der Tarifbindung verabschiedet. Die jüngste Tarifrunde hat auch in Westdeutschland diesen Trend beschleunigt. Noch ein, zwei Lohnrunden dieser Art und der Prozess könnte unkontrollierbar werden. Das aber heißt, dass auch die Gewerkschaften an Einfluss verlieren.

Auch bei den Sozialversicherungen?

Natürlich. Aber ich hoffe, dass zumindest die gesetzliche Alterssicherung zuvor auf eine Steuerfinanzierung umgestellt wird. Dann erledigt sich das Problem von allein.

Dafür gibt es in Deutschland keine Mehrheit.

Im Moment nicht, weil die Bevölkerung noch immer desinformiert ist. Folglich kann sie nicht rational entscheiden. So sagen 81 Prozent der Bevölkerung, bei der gesetzlichen Rente sei kein Verlass mehr. Doch zugleich erklären 72 Prozent, dass sie auch nicht vorhaben, selbst vorzusorgen. Die Bevölkerung stützt sich also nahezu blind auf einen Staat, dem sie gleichzeitig misstraut und den sie unterläuft, wo immer es geht.

Jeder, der die Bevölkerung wecken will, wird nicht wieder gewählt.

Das ist ein wirkliches Problem. Das könnte dazu führen, dass es eines Tages ein sehr unangenehmes Erwachen gibt.

Wann?

In spätestens zehn Jahren. Dann steigt die Gefahr, dass sich die Gesellschaft auflöst und jeder für sich selbst sein Heil sucht. Solche Situationen hat es im Laufe der Geschichte immer wieder gegeben. Sie sind alles andere als erfreulich. Denn solidarisches Füreinandereinstehen ist das Rückgrat einer Gesellschaft. Bricht dieses, könnten die Jüngeren eines Tages erklären: Wir sind nicht länger bereit die Lasten zu tragen, die ihr Älteren uns da aufgebürdet habt.

Das Gespräch führte Ursula Weidenfeld

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