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Wirtschaft: Margarete Behm

Geb. 1919

Die Frau an der Grenze mit dem Nachthemd unterm Mantel – das war sie. Vor einem Jahr hat sie zum letzten Mal in der Öffentlichkeit getanzt. Es war eine Geburtstagsfeier, sie war die erste auf der Tanzfläche und weit nach Mitternacht eine der letzten. Da hatte sie selbst ihren 85. Geburtstag gerade hinter sich. Die jüngeren Frauen waren fasziniert von der kleinen schmalen Frau mit den streichholzkurzen Haaren. „Wenn wir dich sehen, Gretel, dann haben wir keine Angst mehr vor dem Alter.“ – „Es ist ein Fehler, jemanden an seinem Lebensalter zu messen“, sagte Gretel da. „Ich bin Kind. Ich bin junge Frau. Ich bin weise. Ich bin alles – nur nicht so alt wie in meinem Ausweis steht.“

Der Tango war ihre große Leidenschaft. Gretel Behm hat ihr Leben oft mit einem Tango verglichen: „Tango ist der süße Schmerz und so leidenschaftlich wie ich geliebt und gehasst habe.“ Wenn ihr Mann im Krieg vom Fronturlaub kam, dann haben sie stundenlang Tango getanzt. Bis zuletzt hat sie jeden Morgen vor dem Frühstück eine Runde durch die Wohnung gedreht.

Margarethe Behm ist dem Tod viele Male entkommen, zuletzt im Frühjahr 2002, als sie eine Treppe hinabstürzte, wochenlang bewegungslos im Krankenhaus lag und sich doch fast vollständig davon erholte. Schon ihre Geburt am 10. Januar 1919 hätte sie fast nicht überlebt. Von Ferne soll man die Geräusche der Revolution bis in die Wohnung in der Kremmener Straße gehört haben. Der Arzt gab ihr keine drei Wochen, so klein und schwach war sie, keine drei Pfund schwer und außerdem ungewollt, das fünfte Kind der Familie, die in einer Einraumwohnung mit Außentoilette wohnte. Die Mutter wollte etwas vom Leben haben – und starb mit 47 Jahren.

Mit Erstaunen hat Gretel Behm registriert, dass es nach der Wende schick wurde, in der Gegend um die Zionskirche zu wohnen. Als Kind hatte sie dort das Elend gesehen. Sie selbst musste sich vom Sozialamt einkleiden lassen. Als junges Mädchen ging sie immer am Ku’damm aus, und nie hat sie erwähnt, dass sie aus der Plumpe kam, Bernauer Straße, nah am Wedding. „Armut hat mich beleidigt, mein Credo war damals: Nie mehr arm sein.“

Eingesegnet wurde sie von Dietrich Bonhoeffer, der wenige Jahre später als Mitglied der Bekennenden Kirche im Konzentrationslager ermordet wurde. Den Konfirmationsspruch: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: Aber die Liebe ist die größte unter ihnen“, hat sie bis zu ihrem Tod immer wieder zitiert. Mehr als Religion vermittelte Bonhoeffer seinen Konfirmanden Gerechtigkeitssinn und Selbstbewusstsein. Von beidem hatte Gretel Behm genug, um sich mit den jeweils Herrschenden, vom Blockwart bis zum Staatsoberhaupt, anzulegen. Wenn nach der Wende wieder mal ein Politiker den ehemaligen DDR-Bürgern jegliche Kompetenz absprach, rief sie im Bundestag an und beschwerte sich bei der Fraktion.

Mit 16 lernte Gretel Behm ihren späteren Mann kennen, einen gut aussehenden, liebenswerten und dem Alkohol nicht abgeneigten Menschen. Über ihn sagte sie später, dass sie ihr Leben lang nur auf ihn gewartet hat und ihn doch bis zuletzt leidenschaftlich liebte. 1939 musste sie ihren jungen Mann in den Krieg ziehen lassen und bekam ihn bei Kriegsende schwer verwundet wieder. In der Nacht, als ihr Mann 1967 in der Nähe der Grenze starb, hat Gretel Behm geträumt, dass schwarze Tücher an ihr Fenster fliegen. Die Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt.

Ihre beiden Töchter blieben ihre Lebensaufgabe, obwohl Gretel Behm sehr gerne gearbeitet hat. Bis zuletzt kannte sie alle Raffinessen des Versicherungswesens. Ihr Trick war, die Leute mit Freundlichkeit zu entwaffnen, vor allem an diesen grauen Berliner Tagen, wenn der Himmel knapp über dem Dach hing.

Gretel Behm hat darunter gelitten, dass sie nach dem 13. August 1961 von ihrer geliebten Schwester in West-Berlin getrennt war. Das Verhältnis kühlte sich mit den Jahren ab. Als sie am Abend des 9. November 1989 einen Anruf von ihrer Tochter bekam – die Grenze sei offen –, da hielt sie nichts mehr. Sie zog einen Mantel übers Nachthemd und rannte zur Bornholmer Brücke. In den Jahren danach meldete sich immer wieder das Fernsehen bei ihr, und sie musste die Geschichte dieser Nacht erzählen.

Mit 82 fing sie an zu schreiben, 2002 erschien ihre Autobiographie, die nach ihrem Lieblingslied benannt war: „So oder so ist das Leben“. Auf einmal stand sie, die ihr Leben lang geträumt hatte, im Rampenlicht zu stehen, im Mittelpunkt. Sie hatte Lesungen, trat in Talkshows auf und beantwortete Fanpost. Als der Alltag zurückkehrte, machte ihr das zu schaffen.

Sie starb nach kurzer und heftiger Krankheit, die sie mit Verstörung an sich wahrnahm. So etwas war nicht in ihrem Leben vorgesehen.

Annett Gröschner

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