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Wirtschaft: Margit Aldinger

Geb. 1949

Ihre Hände waren noch warm, die Wangen rosig. Ihr Herz schlug. Die Tochter sitzt am Bett ihrer Mutter im Krankenhaus. Ruhig liegt sie da, schön wie immer, das glänzende, schwarze Haar auf dem weißen Kissen, die Wangen rosig. Sag doch etwas, sagt die Tochter, sprich mit mir.

Ich soll dich von Felix und Laura grüßen, sagt die Tochter und streichelt die warme Hand auf der Bettdecke. Laura ist sieben Jahre alt, liebt das Tanzen wie ihre Großmutter, geht jede Woche zum Ballettunterricht. Die Tochter schaut auf den Monitor, der jeden Herzschlag protokolliert. Bildet sie es sich nur ein, oder beruhigt sich das Herz, wenn sie von der Enkelin erzählt?

Sie weiß noch, wie sie als kleines Mädchen neben ihr saß. Vor dem Auftritt, in der Garderobe des Erich-Weinert-Ensembles, wenn sich die Mutter die falschen Wimpern über die schönen Katzenaugen klebte. Um sie herum ein Gewirr von kichernden Stimmen: die anderen Tänzerinnen mit Rougepinseln vor dem Spiegel. Lampenfieber. Und das kleine Mädchen mittendrin durfte den großen Schminkkasten ausprobieren.

Jung war ihre Mutter, gerade Mitte zwanzig, fast eine große Schwester. Einen Mann fürs Leben gab es nicht . Mutter und Tochter fuhren zusammen nach Hiddensee, besuchten die ehemalige Lehrerin, die berühmte Gret Palucca in ihrem Domizil. Sie lebten zusammen in der gemütlichen Wohnung in Alt-Marzahn, direkt an der Mühle. Wenn die Mutter auf Tournee fuhr, zu Abstechern ins Brandenburgische, für vierzehn Tage nach Kuba, Vietnam, Ungarn oder Bulgarien, gab es die Tagesomi.

Eine Kindheit ohne Sorgen, ohne Streit. Eine lebensfrohe Mutter, die für das Tanzen lebte. Zierlich, drahtig und kraftvoll war sie, rückte die Möbel allein, war immer in Bewegung, konnte essen, was sie wollte, ohne zuzunehmen.

Natürlich war ihr Beruf ein Knochenjob. Mit 13 hatte sie die Ausbildung an der Palucca-Schule begonnen, Mathe und Deutsch paukte sie nach dem Training. Mit 18 das Engagement in Berlin. Sie tanzte jeden Tag, 18 Jahre lang, von 1967 bis 1985, klassisch und modern, pausierte gerade mal für die Geburt. Sechs Wochen vorher, acht Wochen nachher. Erst als sie 36 war, spielten die Füße nicht mehr mit.

Trainerin für Eiskunstlauf wurde sie jetzt, bis die Wende kam, aber auch den Umbruch nahm sie sportlich. Wollte sich nach ein paar Jahren der Arbeitslosigkeit ein neues Leben aufbauen, mietete eine Wohnung mit Blick aufs Wasser am Landwehrkanal, machte eine Umschulung zur Altenpflegerin. Sie war ja erst Anfang 50. Und dann das Unfassbare, einen Tag vor dem Ende der Ausbildung der Schlaganfall. Im Krankenhaus folgten weitere, die Ärzte legten sie ins Koma.

Da liegt sie nun, angeschlossen an die Apparate. Eine Patientenverfügung gibt es nicht, die Ärzte müssen ihre Pflicht erfüllen. Die Maschinen arbeiten vor sich hin, unterstützen die Atmung, ernähren den Körper. Auch noch nach einer Woche, als das Gehirn ganz abgestorben ist.

Die Tochter sitzt jeden Tag am Bett der Mutter, von der die Ärzte sagen, dass sie tot ist. Der Hirntod ist der Tod des Menschen, lautet die herrschende, nicht ganz unumstrittene Definition. Ein hirntoter Mensch, besagt sie, kann nie mehr etwas wahrnehmen, nie mehr denken, nie mehr fühlen.

Die Tochter spürt die warmen Hände, die kleinen Bewegungen, den regelmäßigen Herzschlag. Ist der Mensch nur Mensch durch sein Gehirn? Wie soll sie ihn begreifen, diesen Tod, der dem Leben so tückisch ähnelt? Der den Menschen überfordert, weil man ihn denken muss und nicht mehr erfahren kann? Sie sitzt da, mit offenen Fragen. Und weiß nur: Das, was gerade passiert, hätte meine Mutter bestimmt so nicht gewollt.

Eine zweite Woche muss sie warten, bis die Ärzte keine Spuren von Medikamenten mehr im Körper nachweisen können. Erst danach wird die Diagnose offiziell. Der Moment der Unterschrift unter dem medizinischen Befund gilt als Todeszeitpunkt. Noch immer atmet die Tänzerin von einst, noch immer schlägt ihr Herz, die Wangen rosig. Am 14. Tag um 22 Uhr drückt die Tochter auf den Knopf an der Beatmungsmaschine. Einmal mit dem Zeigefinger auf den Kippschalter, so wie man das Licht ausmacht. Dann geht sie aus dem Zimmer.

Es war der schwerste Moment meines Lebens, sagt sie. Aber ich war es meiner Mutter schuldig.

Kirsten Wenzel

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