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Wirtschaft: Marion Lüdke

Geb. 1963

Quincy im Fernsehen, Drei Tenöre im Radio und das Zimmer gut geheizt. Warm, das war ihr wichtig, warm sollte es immer sein. Mindestens 25 Grad im Wohnzimmer. Warm, weil die Kindheit kalt war? Sie hat nicht viel erzählt, sagt ihr Ehemann Bodo. Nicht viel darüber, wie sie als Kind in den Sechzigerjahren in Eisenach aufgewachsen ist. „Nicht schick“ sei das wohl gewesen, nimmt Bodo an. Marion musste ihren Großvater rund um die Uhr versorgen.

Warm war es auch in der Suppenküche des Berliner Kaffeehauses am Alexanderplatz, wo Marion ihre Kochlehre absolvierte. Kochen, das war ihre Leidenschaft, gut kochen, gut essen – gut bürgerlich – das gehörte fortan zu den Freuden ihres Alltags. Und dann das Freizeitvergnügen nach der Schicht: Bars, die bis zehn geöffnet haben und Nachtbars, wo das Vergnügen um zehn beginnt, so nannte man das damals, erzählt Bodo, der Ehemann. Im Café Friedrichstadt hat sie ihn kennen gelernt. „Unkompliziert und ohne viel Federlesen“, so sei die Marion gewesen. Folgerichtig funkte es bei den beiden in der Nachtbar sofort.

Bis zur Wende ein ungestörter Alltag, frei von Brüchen: Bodo als Schlosser im Schichtdienst in den Stahlwerken Hennigsdorf, Marion als Köchin im Schichtdienst in der HO-Gaststätte. Zwei Töchter kamen zur Welt, Jana, ganz nach Bodo, und Anja, eine zweite Marion. Dann das Häuschen in Bergfelde. „Heute“, sagt Bodo, „erinnert mich alles hier an Marion: Zusammen haben wir die Steine geschleppt und den Fischteich angelegt.“ Er hört sie durch das Haus gehen, die Treppe auf und ab und natürlich in der Küche werkeln. Die Geräusche eines Samstags, den Einkauf auspacken, vorkochen für einen Couch-Sonntag mit ihren Lieblingsserien Quincy oder Colombo, mit Musik von Wolfgang Petri oder den Drei Tenören. Und die Fußbodenheizung macht das Zimmer warm. Zu Hause ist zu Hause, so sahen es die beiden; dort waren sie am liebsten.

Den Mauerfall haben Marion und Bodo verschlafen. Sie arbeitete zu dieser Zeit bereits beim Berliner Magistrat, später dann beim Senat. Ihre letzte Arbeitsstelle war die Gesundheitsverwaltung.

Eine Kollegin sagt: „Entweder man hat sie geliebt oder eben nicht.“ Ehrlich sei sie gewesen, vielleicht einen Tick zu direkt. Ihre neue Kollegin musste sie zunächst einmal gründlich testen. Und sie vermittelte ihr das Gefühl, eine lahme und ahnungslose Nuss zu sein. Ein ganzes Jahr währte der Zickenkrieg. Schließlich brach jedoch das Eis, denn Marion Lüdke schätzte ehrliche und unverfälschte Menschen. „Da konnte man auch eine Trantüte sein, schließlich war man ja man selbst“, sagt die Kollegin.

Auf der Arbeit brach Marion Lüdke zum ersten Mal zusammen. Eine Hirnblutung. Die Ärzte versetzten sie zwei Wochen lang ins künstliche Koma. Ein erster Abschied, so sieht es die Familie heute. Schon damals war sie ganz weit weg.

Doch sie erholte sich und ging nach einem Jahr wieder arbeiten. Im November 2004 erfuhr sie, dass sie Lungenkrebs hatte. Sie erzählte ihren Kindern, Eltern, Kollegen und Freunden zwar von der Diagnose, den schweren Verlauf behielten die Eheleute jedoch für sich.

„Marion war so tapfer“, sagt die Kollegin, die regelmäßig mit ihr telefonierte. Über sich und ihre Krankheit hat sie kaum etwas erzählt, sie wollte lieber wissen, was im Büro geschah. Viel gelacht haben sie. „Vielleicht“, sagt die Kollegin, „wäre ich befangener gewesen, wenn ich gewusst hätte, wie dramatisch die Krankheit war.“

So konnte Marion noch am „gesunden“ Leben ihrer Umwelt teilhaben, ohne sich fortwährend mit der eigenen Krankheit beschäftigen zu müssen. Sie hat sich nicht beschwert, verändert hat sie sich dennoch. Weicher sei sie geworden, sagt die Tochter, sie wollte nicht mehr alleine sein und hat sich manchmal tagsüber bei ihr im Zimmer auf das Bett gelegt. Das war komisch.

Marion Lüdke ist zu Hause gestorben. In Bodos Armen nach einem kurzen Händedruck früh am Morgen.

Sarmina Ferhad

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