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Wirtschaft: Marlies Korsch

Geb. 1948

Wie jede gute Fee konnte sie auch streng werden. Als der Schulrat Geburtstag hatte, schob man ihm eine sorgfältig verschnürte Kiste ins Zimmer. Der entstieg ein zartes Geschöpf, kaum größer als eine Elfjährige, mit langem goldschimmernden Haar, lebhaften Augen, in orientalische Tücher gehüllt, kurz: eine Fee. Sie drückte auf den Knopf eines Kassettenrekorders und gab der Gesellschaft eine Bauchtanzvorführung.

Die Fee hieß Marlies Korsch und war Sekretärin am Oberstufenzentrum für Körperpflege, wo Maskenbildner, Friseure, Zahntechniker und ähnliche Berufsgruppen ausgebildet werden.

Ihre elfenhafte Gestalt, so erzählte sie, hatte sie einem Unglück zu verdanken: Als Marlies zwölf Jahre alt war, entfernte man ihr mittels Radium ein Blutschwämmchen im Kopf. Dabei wurde eine für das Wachstum wichtige Drüse so beschädigt, dass ihr Körper bei 1,42 Meter zu wachsen aufhörte.

Ihrer Grazie, ihrem Witz und ihrem schönen Haar aber hatte das Radium nichts anhaben können. Mit den Jahren entdeckte Marlies, dass die Männer sich von diesen Vorzügen durchaus bezaubern ließen. Sie verliebte sich in einen amerikanischen Soldaten, den sie bald darauf heiratete. Dass dieser Mann sie zwei Jahre später verließ, weil eine andere ein Kind von ihm erwartete, war schlimm für sie. Noch trauriger machte sie, dass sie seinen Kinderwunsch nur zu gut nachvollziehen konnte. Eigene Kinder konnte sie nicht bekommen.

So kam es, dass sie beinahe alle Schüler des Oberstufenzentrums beim Namen nennen konnte, dass sie erkannte, wenn sich hinter der Bitte um ein paar Kopien oder einen Stempel die Sehnsucht nach einer viel größeren Hilfe verbarg. Diesen Schülern bedeutete Marlies, Platz zu nehmen. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und unterhielt sich mit ihnen leise über Elternprobleme, ungeplante Schwangerschaften, Liebeskummer.

Wie jede gute Fee konnte sie auch streng werden. Wenn in der Kantine wieder einmal geklaut wurde, rief man nach Marlies. Dort erschien sie mit finsterer Miene und malte wilde Zeichen auf ihr Papier. Stenografie, flüsterten ehrfürchtig die Schüler. Und Marlies drohte, mittels ihrer Stenografie wortgetreu die schlechten Lügen der Täter und die plausiblen Aussagen der Kantinenangestellten an die Kripo weiterzuleiten. Weder waren die Zeichen Stenografie, noch hätte sie sich jemals an die Kripo gewandt. Doch sie verwandelte die Gangster in anständige Bürger, die brav ihren Kaffee bezahlten.

Wie lebte diese Fee, wenn sie nicht an ihrer Arbeitsstelle war? Ihren zweiten Ehemann hat sie verlassen. Eingeengt habe sie sich gefühlt, erzählte sie ihrer Cousine. Sie, die das Meer, die Luft, den Tanz und die Süßigkeiten liebte. Die sich gerne großen Reisegruppen anschloss. Marlies suchte die Freiheit, doch eine Freiheit in der Gemeinschaft.

Als sie von der Maskenbildnerklasse auf die private Abschlussfeier eingeladen wurde, stiegen Marlies Freudentränen in die Augen. Wenn sie nachmittags nach Hause kam, traf sie sich oft mit einer Nachbarin, die für sich und Marlies kochte.

Doch täglich kam irgendwann die Zeit, die eigene Wohnung zu betreten. Dort bekämpfte sie die Stille, indem sie nachts oft vor dem Fernseher saß oder Gameboy spielte.

Wenn sie mal auf Rente sei, verkündete sie oft, dann würde sie auswandern. Sie wollte zu ihrer Cousine auf die niederländischen Antillen, an einen Ort, wo die Sonne scheint und die Türen offen stehen, wo es viele Tiere gibt und immer jemanden zum Reden. Bis dahin vertrieb sie sich ihre freie Zeit mit Bauchtanz, Trommeln, Reisen, immer unterwegs in ihrem geliebten blauen Opel.

Dass mit Frau Korsch irgendetwas nicht ganz irdisch sei, glaubte auch die Verkehrspolizei, als sie Marlies’ Auto blitzte: Ein Auto ohne Fahrer. Bei genauerer Betrachtung hätten sie vielleicht eine kleine Nase erkannt, die gerade so über das Lenkrad ragte.

Auf ihren plötzlichen Tod an Herzversagen war niemand vorbereitet. Kurz zuvor hatte sie einen Flug auf die Antillen gebucht.

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