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Wirtschaft: Michael Wagner

(Geb. 1950)||Kein Frauenheld, kein Partylöwe, kein Ästhet. Verlässlich war er.

Kein Frauenheld, kein Partylöwe, kein Ästhet. Verlässlich war er. Girls, Girls, Girls... Statistik der Saison 1966. Der „Schwarze Ballade Club“, kurz: SBC, veranstaltete elf Clubfeten, drei Bayernabende (Bockbier!), zwei Gartenfeste, fünf Tanzlokalbesuche und vier „außerordentliche Treffen mit Mädchen“. 25 verschiedene Mädchen besuchten insgesamt 49 Mal Veranstaltungen des SBC. Am häufigsten, acht Mal, erschien Evelyne H., die damals mit Jochen liiert war. Insgesamt blieb der Durchschnittswert von 3,48 Mädchen pro Fete hinter den Erwartungen zurück. Daran musste gearbeitet werden. Finanziell lief es besser. Mehr als 100 Mark im Plus. Michael hatte wieder einwandfrei gewirtschaftet. Michael, der schlaksige Teenager mit der Beatles-Frisur, war der Kassenwart.

Lichterfelde West, sechziger Jahre. Die Erwachsenen tanzen Foxtrott und trinken Sektbowle. Die Halbstarken hören Beat und berauschen sich mit Bier oder Lambrusco. Die ersten Partykeller und -dachböden entstehen. Sechs Jungs gründen einen Club, um vergnügliche Abende zu veranstalten und praxisnah zu erforschen, wie die eigene Attraktivität in Bezug auf junge Damen gesteigert werden kann. Michael war sehr scheu. Stundenlang diskutierte er mit einem Freund aus dem Club über ein bestimmtes Mädchen, versuchte, sich in ihren Kopf hineinzuspekulieren, um den Ansatzpunkt für eine Kontaktaufnahme zu finden.

Als Kind war er eher rundlich, später wuchs sich das aus. Er war kein großer Sportler, eher ein Sportgucker, besonders Fußball. Ein Hertha-Fan wie sein Vater. In Fußballstatistik war er allen überlegen. Wenn er ein Spiel verfolgte, konnte Michael unheimlich aufdrehen, auch mal losbrüllen oder jubelnd aufspringen, was sonst gar nicht seine Art war. Oder es war doch seine Art, nur hielt er sie unter Verschluss, um kein Risiko einzugehen, sich vielleicht zu blamieren.

Eine Zeit lang lief er mit der Tochter vom Radiohändler zur Schule. Da waren die Jungs schwer beeindruckt, weil die Tochter vom Radiohändler zu jenen Mädchen gehörte, die pubertäre Traumwelten besiedeln. Dennoch war Michael Wagner von seiner Anziehungskraft nicht überzeugt. Genauso wenig überzeugte ihn die Welt im Allgemeinen. Er grantelte und polterte gern, reagierte unwirsch, wenn er das Gefühl hatte, hinter seinem Rücken werde über ihn geredet. Natürlich hatten seine Freunde vor allem viel Spaß mit ihm und er mit ihnen. Er war ein guter Kumpel, hilfsbereit, unternehmungslustig, „janz normal“, sagen sie, ein durchschnittlicher Schüler ohne besondere musische oder naturwissenschaftliche Begabungen. Kein Frauenheld, kein Partylöwe, kein Bücherwurm, kein Ästhet. Verlässlich war er, das ja.

Nach dem Abitur verlieren sich die Clubmitglieder aus den Augen. Michael studiert Betriebswirtschaft, wird Experte für Finanzbuchhaltung, verdient viel Geld. Wenn man ihn fragt, wie die Arbeit läuft, läuft sie meist schlecht. Sporadisch hört man von ihm. Er lebt allein, zieht nach der Arbeit durch die Kneipen, geht auf Reisen. 1989 sehen sich alle auf einem Clubtreffen wieder. Es gibt zwei wichtige Neuigkeiten: Michael hat eine Frau gefunden. Und er hat Multiple Sklerose.

Die Freunde versprechen sich, den Kontakt wieder fester zu knüpfen. Doch Einladungen lehnt Michael meistens ab. Die Krankheit lässt sich nicht mehr verbergen. 1997 zieht er nach Krefeld, wo seine Frau ihn besser betreuen kann. Die Freunde telefonieren, aber Michael ist kein einfacher Gesprächspartner. „Na, wie soll‘s mir schon gehen?“ „Fußball? Seh‘ ich mir gar nicht mehr an.“

2004 besuchen sie ihn in Krefeld. Er kann nur noch mit Mühe sprechen. Aber er freut sich, die alten Sprüche zu hören, mit denen sie ihn schon früher geneckt haben.

Übrig geblieben aus den fernen Tagen des SBC ist das Gästebuch, schwer wie ein Fotoalbum, mit Versweisheiten zum Alkoholkonsum, mit Fotos paffender Teens in schwarzen Anzügen und den Original-Unterschriften hunderter Partybesucher. Waren sicher schöne Jahre, auch für Michael.

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