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Im Land der Kernenergie. Schon jetzt stehen in Somerset zwei AKWs: Die beiden blauen Blöcke von Hinckley Point A werden zurückgebaut. Kraftwerk B läuft noch bis 2023.

© REUTERS

Nach Fukushima: Großbritannien setzt auf Atomkraft

Die Briten bauen ein neues Akw. Es ist das erste in Europa seit Fukushima. Ein Baustellenbesuch

Von Carla Neuhaus

Drei Millionen Tonnen Beton. 230 000 Tonnen Stahl. 32 Kilometer Stacheldraht. Nigel Cann denkt in großen Dimensionen. So wie man das macht, wenn man ein Atomkraftwerk baut.

In Gummistiefeln und neongelber Schutzjacke steht Cann an diesem Nachmittag Anfang Dezember auf einem Acker in Somerset im Südwesten Englands. Hier und da ragen rotweiße Stöcke aus der Erde, provisorische Holzzäune teilen das Land in Parzellen auf. In den nächsten zehn Jahren soll hier das neue Atomkraftwerk Hinkley Point C gebaut werden. „Wir hoffen, dass wir bald beginnen können“, sagt Cann, der das Projekt verantwortet. Erst kürzlich hat die britische Regierung ihr Okay gegeben – und damit den ersten Neubau eines Atomkraftwerks in Europa seit Fukushima beschlossen.

In Großbritannien ist in diesen Tagen viel von der „nuklearen Renaissance“ die Rede. Während sich Deutschland vollständig von der Atomkraft abgekehrt hat, wollen die Briten bis 2030 mindestens 12 neue Atommeiler bauen. Allein Hinkley Point C soll langfristig fünf Millionen Haushalte mit Strom versorgen.

Gebaut wird das neue Akw von dem französischen Energiekonzern EDF – für 16 Milliarden Pfund (19 Milliarden Euro). Es ist das größte Industrieprojekt in Großbritannien seit Ende des zweiten Weltkriegs. Finanziert wird es neben EDF von dem französischen Anlagenbauer Areva und zwei chinesischen Investoren. Die britische Regierung hat dem Konzern zugesichert, für den Strom aus dem neuen Akw über 35 Jahre 92,50 Pfund pro Megawattstunde zu zahlen. Das ist das Doppelte des aktuellen Strompreises. Die Briten fürchten deshalb steigende Energiekosten. Cann, Direktor des Hinkley-Point-C-Projekts, sagt dagegen, es sei ein fairer Preis. Schließlich gelte er erst in zehn Jahren und dann für mehrere Jahrzehnte.

Die Unterstützung für Atomkraft ist groß

Ähnlich wie Deutschland muss Großbritannien seine Energie-Infrastruktur dringend erneuern. Viele der derzeit aktiven Atomkraftwerke werden in den kommenden zehn Jahren aus Altersgründen abgeschaltet. Doch anders als die Deutschen halten die Briten die Atomkraft noch immer für alternativlos.

Neue Kohlekraftwerke will das Land nicht bauen – denn dann könnte es seine Klimaschutzziele nicht erreichen. Und Erneuerbare Energien haben in der Bevölkerung einen schlechten Ruf. Umfragen zufolge haben die Briten mehr Angst davor, dass Windfarmen ihre englische Landschaft verschandeln könnten, als vor einem Atomunfall. Da kommt es gut an, wenn die Regierung vorgerechnet, der Bau von Hinkley Point C ersetze 6000 Windgeneratoren und brauche 600 Mal weniger Platz.

Dass EDF nicht schon längst mit dem Bau des Atomkraftwerks begonnen hat, liegt an der EU-Kommission. Sie prüft seit dieser Woche, ob die vereinbarte Einspeisevergütung eine unerlaubte Staatshilfe ist. Allerdings ist der Fall kompliziert – längst geht es um mehr als um die britische Energiepolitik. Sagt die EU-Kommission Nein zum Akw-Neubau, spielt das den EU-Gegnern in die Hände. Sie könnten dann argumentieren: „Wir wollten etwas Gutes für die britische Wirtschaft tun, aber die EU hat es uns untersagt.“ Da die Briten schon jetzt lebhaft über einen EU-Austritt diskutieren, dürfte die Kommission an einer diplomatischen Lösung interessiert sein.

Die Vorbereitungen für den Akw-Bau sind abgeschlossen

EDF-Projektleiter Cann wartet deshalb vorerst weiter darauf, mit dem Bau beginnen zu können. Die Vorbereitungen sind längst abgeschlossen. Der Boden unter seinen Füßen ist erdig, hier und dort hat sich noch etwas Gras durchgekämpft. „Wir versuchen, die Vegetation gering zu halten“, sagt er. Hecken, Bäume und Sträucher, die hier einmal standen, mussten bereits weichen.

Projektleiter Cann wartet auf die Entscheidung aus Brüssel.
Projektleiter Cann wartet auf die Entscheidung aus Brüssel.

© Carla Neuhaus

In den letzten Monaten hat Cann mit Anwohnern gesprochen, mit Naturschützern, mit Vertretern der regionalen Wirtschaftskammern. Er hat ein fensterloses Steinhaus für die Fledermäuse gebaut, die durch den Bau des Atomkraftwerks aus ihrem Revier vertrieben werden. Er hat in den Wohnhäusern in der Umgebung wegen des Baulärms Schallschutzfenster einbauen lassen. Und er hat der Regierung versprochen, dass 57 Prozent der Ausgaben für den Bau in Großbritannien bleiben und dass er auf der Baustelle rund 400 Azubis ausbilden wird.

Von der Baustelle aus blickt Cann in die Ferne. Das Land fällt hier leicht zum Meer ab, Möwen ziehen kreischend über den Himmel. Am Horizont stehen ein grauer und zwei blaue würfelförmige Klötze in der grünen Landschaft. Das sind die beiden alten Atomkraftwerke Hinkley Point A und B. Kraftwerk A, das 1965 ans Netz ging, wird seit 13 Jahren zurückgebaut. Kraftwerk B soll noch bis 2023 laufen – also bis zu dem Jahr, in dem der neue Komplex fertig werden soll.

Was die Atomkraftgegner sagen

Wenn der Konzern Gästen demonstrieren will, wie sicher Atomkraft ist, lädt er sie ein, sich Hinkley Point B anzuschauen. In einem blauen Ganzkörperanzug, Sicherheitsschuhen und mit einem gelben Schutzhelm auf dem Kopf führt der technische Sicherheitsmanager Peter Higginson die Gäste dann über fünf Stockwerke hinauf in die Reaktorhalle. Auf einer unscheinbaren Fläche bleibt er stehen. Im Boden sind Platten eingelassen, jede ist nummeriert. Unter ihnen verbergen sich die Brennstäbe. Der Boden vibriert leicht – durch die Atomspaltung.

Draußen deutet Higginson später auf die 14 Meter hohe Mauer, die das Kraftwerksgelände vom Meer trennt. „Wenn es in Fukushima eine solche Schutzwand gegeben hätte“, sagt er, „wäre dort nichts passiert.“

Eine Region lebt vom Atomkraftwerk

Die meisten Menschen, die in der Nähe des Atomkraftwerks leben, glauben an diese Sicherheitsversprechen. So auch Rob O'Brien. Der 42-Jährige führt einen Delikatessen-Laden in Taunton, der nächstgelegenen größeren Stadt. „In Hinkley Point gibt es schon seit ich denken kann ein Atomkraftwerk“, sagt er. „Solange es keinen Beweis gibt, dass es uns schadet, habe ich nichts dagegen.“ Wie er kennen die meisten Anwohner jemanden, der im Atomkraftwerk arbeitet. O’Briens Vater war in Hinkley Point über 30 Jahre lang beschäftigt, seine Schwester hat dort in der Personalabteilung gearbeitet. Auch der Akw-Neubau macht ihm keine Sorgen – er sieht darin sogar eine Chance: „Es werden dadurch viele Arbeiter hierher kommen. Das hilft der Wirtschaft vor Ort.“ Durch den Bau des neuen Kraftwerks sollen 25 000 Jobs geschaffen werden, rechnet EDF vor. Zu Hochzeiten werden 5600 Arbeiter gleichzeitig auf dem Bau beschäftigt sein.

Eine große Anti-Atomkraftbewegung wie in Deutschland gibt es in Großbritannien nicht. In der Regierung sind fast alle Parteien für den Ausbau der Kernenergie. Die einzige Partei, die sich dagegen ausgesprochen hat, ist die Grüne – aber sie ist nur mit einem Sitz im Parlament vertreten. Selbst Greenpeace hat den Protest gegen Hinkley Point aufgegeben.

Gegner sorgen sich um den Atommüll

Die Gruppe derjenigen, die sich dennoch weiter gegen den Bau des Kraftwerks wehren, ist klein. Zu ihr gehört Theo Simon. Der 55-Jährige wohnt etwa 40 Kilometer von Hinkley Point entfernt in einer Kommune im Wald, die ihren eigenen Solarstrom produziert. Vor einem Jahr wurde er festgenommen, nachdem er mit anderen ein Bauernhaus auf dem Gelände von EDF besetzt hatte. Betritt er die Baustelle noch einmal, droht ihm eine Haftstrafe.

„Mich stört, dass hier ein Atomkraftwerk gebaut wird, ohne dass man weiß, wo später der Atommüll hin soll“, sagt er. Anders als bei den bestehenden Atomkraftwerken soll in Hinkley Point C der Müll nicht sofort in ein Endlager abtransportiert, sondern vor Ort gelagert werden – in einem mit Beton ummantelten Becken. „Man weiß einfach nicht, wohin damit“, sagt Simon.

Großbritannien plant derzeit ein neues unterirdisches Endlager für Atommüll. Doch noch ist ist unklar, wann es wo entstehen soll. „Wir werden den Atommüll aus Hinkley Point C solange vor Ort aufbewahren, bis das Endlager fertig ist“, bestätigt Projektleiter Cann. Die Anlage werde dafür ausgelegt, den Atommüll wenn nötig für die gesamte Laufzeit von 60 Jahren vor Ort zu lagern. EDF will einen Fonds auflegen, aus dem die Kosten für die Entsorgung des Atommülls sowie den späteren Rückbau des Kraftwerks finanziert werden soll.

Ohne dass die Anwohner es merkten, sagt Aktivist Simon, entstehe in Hinkley Point eine neue Lagerstätte für Atommüll. Doch nur wenige hören ihm zu. Die meisten Briten scheinen es wie George Monbiot zu sehen, einem Journalisten vom „Guardian“. Nach dem Unglück von Fukushima schrieb er: „Mit der Energie ist das wie mit der Medizin: Wenn es keine Nebenwirkungen gibt, ist die Chance groß, dass sie nicht funktioniert.“

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