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Ein Niederländer in Leverkusen. Am Freitag rückt Marijn Dekkers an die Spitze des Bayer-Konzerns. Seine Berufung bricht mit einigen Traditionen des Unternehmens.

© ddp

Neuer Vorstandschef: Bayer im Nebel

Am Freitag geht es richtig los, und bald trifft er Kanzlerin Merkel: Wie der neue Vorstandsvorsitzende Marijn Dekkers die Zukunft des Bayer-Konzerns sieht.

Der Ort ist mit Bedacht gewählt. Aus der 27. Etage eines Hochhauses am Rheinufer in Köln-Deutz soll der Blick zehn Kilometer stromabwärts auf das erleuchtete Bayer-Kreuz und das Werksgelände fallen. Etwas Abstand zeigt die Dimension der Dinge meist am besten. Doch hier verhindern Regenwolken und Nebelschwaden, dass es so kommt. Die größte Leuchtreklame der Welt und der „Chempark“ von Leverkusen liegen irgendwo in der Finsternis, als der designierte Vorstandsvorsitzende Marijn Dekkers am Montagabend seine Pläne für das Unternehmen erläutert.

Seine Botschaft: Kein radikaler Wandel ist geplant, kein großer Zukauf kündigt sich an, und keine der drei Sparten Gesundheit (Health Care), Pflanzenschutz (Crop Science) und Kunststoffe (Material Science) steht vor dem Verkauf. „Alle Teilkonzerne sind für mich von strategischer Bedeutung.“ Doch zugleich hält sich der in den USA gefeierte Dealmaker alle Hintertüren ganz weit offen. In der Lage sei Bayer schon, auch große Zukäufe in einem Volumen von 15 oder 20 Milliarden Euro zu stemmen, insbesondere im Gesundheitssektor, aber man dürfe das nicht zu fest anstreben. „Wenn man Ziele hat, bezahlt man zu viel“, sagt Dekkers. Und „zum jetzigen Zeitpunkt“ wolle er am Portfolio nichts ändern, auch wenn das „selbstverständlich keine Bestandsgarantie für die Ewigkeit“ sei.

Wie lange die Ewigkeit dauert, überlegen Aktienhändler vor allem bei Material Science. Immer wieder gab es Verkaufsgerüchte. Die Grundfrage lautet, ob die Summe der Teile größer ist als das Ganze, also die Sparten mehr wert sind als der Konzern. „Ich glaube nicht“, sagt Dekkers, fügt aber statt eines Dementis eine philosophische Betrachtung an. „Das ist schwierig zu beurteilen. Man kann das Experiment nur einmal machen.“

Ein Experiment ist auch die Berufung von Dekkers, der den Vorstandsvorsitz nach neunmonatiger Vorbereitung am kommenden Freitag von Werner Wenning übernimmt. Zu der feierlichen Zeremonie gehört die Übergabe eines Staffelstabes: Er ist aus Makrolon, einem in den 50er Jahren entwickelten Bayer-Werkstoff, wird zum vierten Mal weitergereicht und enthält ein paar handschriftliche Zeilen des alten an den neuen Chef. Doch so sehr die Tradition nach außen gewahrt wird, so ist die Berufung des rothaarigen Holländers ein Bruch mit ihr.

Als erster Bayer-Chef kommt er nicht aus dem Haus und nicht aus Deutschland, er hat in einer anderen Managementkultur, in einer anderen Branche und in viel kleineren Unternehmen Karriere gemacht. Dekkers, gerade 53 geworden, ist ein promovierter Chemiker aus den Niederlanden, der es in den USA nach diversen Stationen zu einem der bestbezahlten Manager gebracht hat. Sein Gesellenstück lieferte er beim Laborgerätehersteller Thermo Electron in Boston ab: Durch die Übernahme des größeren Konkurrenten Fisher Scientific verfünffachte er den Umsatz und verdreifachte die Mitarbeiterzahl auf 35 000.

Der scheidende Vorstandschef Wenning, der in gut drei Wochen 64 wird, stammt dagegen aus Leverkusen, hat bei Bayer eine Lehre zum Industriekaufmann gemacht, nie studiert, nie den Arbeitgeber gewechselt und sich bis an die Spitze hochgearbeitet. Auch er steht für spektakuläre Deals, zum Beispiel die Übernahme des Berliner Traditionsunternehmens Schering, aber vor allem verkörpert er den Typus des bodenständigen Patriarchen, der in den Führungsetagen der Dax-Konzerne immer seltener anzutreffen ist. Dass Headhunter Dekkers durchbrachten und sich unter 108 000 Mitarbeitern keine interne Besetzung fand, ist ein Kulturschock. Man hört in Leverkusen nicht gern, dass es bei der Nachfolgefrage an Weitsicht gemangelt haben könnte. Man nehme den besten Kandidaten, egal, ob er von innen oder außen kommt, heißt es dann.

Ab Freitag geht es für Dekkers richtig los. Ein Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) steht bald an, schon Ende Oktober hat er seinen ersten Quartalsbericht zu verantworten. Der neue Mann spricht im Alltag Englisch, aber für das Treffen mit zwei Dutzend geladenen Journalisten hoch über dem Rhein hat er eine gut elfseitige Rede auf Deutsch mitgebracht. In entscheidenden Passagen hält er sich exakt an den in mehreren Durchgängen abgeschliffenen Wortlaut, um kein falsches Signal an die Märkte zu geben. Er nimmt Deutschunterricht, denn er hat die Sprache 30 Jahre lang kaum benutzt. Auch das ist ein Signal – ein aussichtsreicher interner Kandidat für den Top-Posten soll gescheitert sein, weil er kein Deutsch lernen wollte.

Für Dekkers ist Leverkusen irgendwie auch Heimat. Der Wechsel sei ihm nicht schwer gefallen, weil ihn die Kultur, der Umgang miteinander nicht überraschten, sagt er. Er ist im deutsch-niederländischen Grenzland aufgewachsen, spielte einst in Emmerich Oberligatennis. Trotzdem schlägt das Niederländische hörbar durch. Er spricht von „Prodükten“ und „Akschionären“, von einer „sterken Identität“ und davon, dass eine „fündamentehle Änderung“ nicht anstehe.

Wo sich vielleicht doch etwas ändert, deutet er nur an. Mehr „Diversity“ will er, also in Führungsfunktionen mehr Frauen und mehr lokale Kräfte. Ein Anfang ist gemacht mit der Berufung der Amerikanerin Sandra Peterson an die Spitze von Crop Science. Und außerdem strebe er nach einer schlankeren Struktur und mehr Effizienz, sagt Dekkers offenbar vor allem mit Blick auf die ausländischen Gesellschaften. Es müsse klarer sein, wer eigentlich Entscheidungen treffe. Aber auch hier hält er den Ball flach: „Erwarten Sie nicht eine große Reorganisation.“ So liegt seine Vision für den Konzern noch weitgehend im Nebel, als er sich nach drei Stunden, vier Gängen und ein paar Schlucken Rotwein verabschiedet.

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