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© Keystone

Niedriglöhne: Für ein paar Euro weniger

Sven Bölkow arbeitet für 800 Euro im Monat. Mit Hartz IV hätte er mehr, sagt er. Tauschen will er trotzdem nicht.

Sven Bölkow liebt seine Frau, aber kürzlich dachte er an Scheidung. Vorgefallen war nichts. Kein Streit, kein Betrug, keine Ehekrise. Der 28-Jährige aus Hohenschönhausen hatte sich einfach hingesetzt und nachgerechnet.

„Wenn ich nicht mit meiner Frau und meiner zweijährigen Stieftochter zusammenleben würde, hätten wir fast 300 Euro mehr im Monat“, sagt er. So viel mehr Unterhalt und Kindergeld würde seine Frau dann bekommen. Bölkow versucht, das mit der Scheidung als Witz zu erzählen, aber es klingt resigniert. Die 300 Euro könnten er und seine Familie gut gebrauchen. Sven Bölkow, der seinen richtigen Namen und den seiner Frau nicht in der Zeitung lesen möchte, ist einer von mehr als sechs Millionen Menschen in Deutschland, die in einem Niedriglohnjob beschäftigt sind.

35 Stunde die Woche arbeitet er als Lagerist, hebt Kisten, fährt Gabelstapler, erledigt Papierkram. Am Ende des Monats bringt er 800 Euro nach Hause. „Wenn die Auftragslage gut ist, auch mal 900“, sagt er. Dazu kommen noch Kindergeld und 100 Euro Unterstützung vom Amt, das auch für die Wohnung zahlt.

„Wenn ich zu Hause bleiben und nur Hartz IV kassieren würde, hätten wir 50, 60 Euro mehr im Monat“, sagt Sven Bölkow. Für ihn komme das jedoch nicht infrage. „Dafür bin ich zu stolz“, sagt er. „Ich bin keiner, der wegen jedem Scheiß zum Amt rennt.“

Bölkow ist in einer Familie groß geworden, in der alle immer gearbeitet haben. Seine Eltern haben ihm gesagt: „Wer Arbeit sucht, der findet auch welche.“ Daran glaubt auch er. Obwohl seine Frau, die nach einem abgebrochenen Sozialpädagogikstudium inzwischen schon länger als ein Jahr jeden Monat 20 Bewerbungen schreibt, nichts findet. „Wenn die lesen, dass sie ein Kind hat, wird sie nicht mal eingeladen.“ Er zuckt mit den massigen Schultern.

Bei ihm hat es mit der Arbeit immer irgendwie geklappt. Als er nach einer Ausbildung zum Maler und Lackierer keine Stelle fand, ging er zu einer Zeitarbeitsfirma und ließ sich vermitteln. In den vergangenen Jahren hat er so auf Möbellastern gestanden, hat Gerüste aufgebaut, Pizzakartons gefaltet, in einer Fernseherfabrik gearbeitet, gleich mehrmals auf einem Recyclinghof. Doch irgendwann war immer Schluss. Entweder wurden die Verträge nicht verlängert, wurden Stellen abgebaut oder die Firma dichtgemacht.

Sein Job als Lagerist ist nach einem Jahr gerade um sechs Monate verlängert worden. Danach hat man ihm eine Festanstellung in Aussicht gestellt. Dann würde er genauso viel verdienen wie die Kollegen, die jetzt schon für die gleiche Arbeit das Doppelte bekommen. Doch Bölkow hat gelernt, sich nicht zu früh zu freuen. „Abwarten“, sagt er.

Häufig fühlt er sich machtlos, gibt er zu. „Klar wird man ausgebeutet, aber der Arbeitsmarkt ist so überflutet. Wenn du die Arbeit für den Lohn nicht machst, steht der Nächste doch schon bereit.“ Er versteht, dass viele Bekannte in einer ähnlichen Lage lieber schwarzarbeiten gehen. Hat er auch schon mal gemacht. Inzwischen ist ihm das allerdings zu gefährlich. „Wegen der Kleinen“, sagt er. „Da hat man ja Verantwortung.“

Schlimmer als das Gefühl, ausgenutzt zu werden, sei jedoch die permanente Unsicherheit, sagt seine Frau Nadine. Die schwarz gefärbten Haare hat sie unter einer schwarzen Mütze zu Zöpfen gebunden. Die grauen Augen wirken müde. „Nie weiß man, was morgen ist, nie kann man irgendetwas vorausplanen, nichts aufbauen.“ Bausparverträge? Lebensversicherungen? Private Ausbildung? „Gerne“, sagt sie. „Aber wovon sollten wir das zahlen?“ Nadine Bölkow kümmert sich um die Haushaltskasse. Früher habe sie immer alle Preise in D-Mark umgerechnet, sagt die 27-Jährige. Heute rechne sie in Lebensmitteln. Sie grinst verlegen. Sie kann das mit dem Umrechnen auf Zuruf. Einmal Achterbahn auf dem Rummel? „Zwölf Tüten Milch“, sagt sie. Ein Monatsticket für die Bahn? „Drei warme Mahlzeiten.“

Wenn die Rechnungen für Versicherungen, Kita und Fernsehen bezahlt sind, bleiben etwa zehn Euro pro Tag. Für drei Personen. Für alles. „Wenn man sich Mühe gibt, kommt man mit dem Geld hin“, sagt sie. „Dann kommt man am Ende des Monats mit null raus.“

Dafür müssten sie allerdings auf fast alles verzichten: Kino, Museum, Essen gehen, Urlaub. Oft auch auf Obst, weil sie statt einer Schale Trauben ja auch eine Tüte Milch, zwei Tüten Saft und eine Packung Toastbrot kaufen kann. Sven Bölkow ist früher gerne Angeln gefahren. Alles nicht mehr bezahlbar. Gerade haben beide sich vorgenommen, auch das Rauchen aufzugeben. „Das war der letzte Luxus“, sagt Nadine Bölkow.

Schon heute schläft sie oft schlecht, weil sie Angst hat, was passiert, wenn ihre Tochter einmal in die Schule kommt. Sie weiß nicht, wie sie die Schulsachen bezahlen soll, sorgt sich, dass ihre Tochter in der Schule gemobbt wird, weil sie ihr keinen iPod und kein Handy wird kaufen können. Ihre beiden Eltern sind Lehrer, sagt sie. „Ich weiß, was heute in den Schulen los ist.“

Viele ihrer Freunde, die in ähnlichen Situationen lebten, hätten sich deshalb entschieden, erst gar keine Kinder zu bekommen. „Wenn ich vorher gewusst hätte, wie alleine einen der Staat damit lässt, hätte ich mich vielleicht auch anders entschieden“, sagt sie und schluckt. Ihre Augen schimmern feucht.

Wie das alles weitergehen soll, weiß Sven Bölkow nicht. Auch nicht, wem er eigentlich die Schuld geben soll an den Verhältnissen. Der Politik, von der er sich verladen fühlt, wenn er hört, dass der Staat Familien fördere, oder wenn er die Arbeitslosenzahlen im Fernsehen sieht? „Das ist doch alles schöngerechnet“, sagt er, und das mit den Mindestlöhnen sei ja prima, aber wieso hätte er davon nichts? „Und dann diskutieren sie ernsthaft, ob man nicht Hartz IV erhöhen müsste.“ Er schüttelt den Kopf.

Seine Eltern sagen, die Zeiten seien schuld. Die Krise. Es werde auch wieder besser werden. Sven Bölkow hofft das auch. Bis dahin wird er einfach weitermachen wie bisher. Rumsitzen kann er nicht, sagt er. Wenn er in einem halben Jahr doch nicht fest angestellt wird, dann sucht er sich halt wieder was anderes. Das Arbeiten, sagt er, ist das Letzte, was mir noch ein bisschen Würde verleiht.

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