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Wirtschaft: Norbert Adrian

(Geb. 1924)||Philosoph, Propagandachef, Spion. Und alles ohne Diplom und Titel.

Philosoph, Propagandachef, Spion. Und alles ohne Diplom und Titel. Ein Bild ging um die Welt. Ostern 1968, Berlin Kurfürstendamm. Protestierende Studenten halten den Wasserwerfern der Polizei ein riesiges Holzkreuz entgegen. Das Kreuz bleibt oben. Der Größte auf dem Bild, dessen Hände das Riesenkreuz wie ein Schwert halten – das ist er. Norbert Adrian aus Trier, 1,93 Meter, Mitbegründer der Freien Universität, unlängst noch Student der Germanistik, Philosophie und Pädagogik, auch Landesvorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes. Aber da stand der SDS noch nicht auf der Straße. Und trotzdem: Hier auf dem Kurfürstendamm, mit dem Kreuz in der Hand unter den Wasserwerfern der Polizei ist Norbert Adrian ganz eins mit der Welt seiner Herkunft. Denn er ist sehr katholisch, schon weil es kaum möglich ist, aus Trier zu kommen und nicht katholisch zu sein. Nur ein nicht ganz unbekannter Trierer vor ihm hat das geschafft, sie waren fast Nachbarn, denn Norbert Adrian wurde nur ein paar Häuser weiter geboren, und nun, unter den Wasserwerfern, steht er schon wieder ganz nah bei seinem Mittrierer Karl Marx. Und denselben Beruf, der keiner ist, haben beide auch: Philosoph.

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern, hatte Marx gesagt. Aber ist das nicht schade um die Philosophie und um die Welt? Er, Norbert Adrian, hegt immer einen Vorbehalt gegen die Praktiker des Geistes; vielleicht ist es ein katholischer, ein kontemplativer Vorbehalt. Natürlich, er bringt eine SPD-Versammlung dazu, eine Resolution gegen die Roten Khmer zu verabschieden und darüber die ursprünglich geplante Resolution für die Tempo-30-Zone auf der Spanischen Allee komplett zu vergessen. Aber sonst ist er schon der Ansicht, dass die Philosophen bisher viel zu wenig interpretiert haben. Märchen zum Beispiel. Er, Norbert Adrian, erklärt den Kindern im Radio, wie man „Frau Holle“ wirklich verstehen muss. Ist die Goldmarie nicht bloß eine potenzielle Erfüllungsgehilfin des Kapitals, eine Repräsentantin sämtlicher Sekundärtugenden, eine Gefangene des Alltags, während erst die Pechmarie wirklich aus dem Verblendungszusammenhang des Daseins ausbricht? Kein Wunder, dass sie nicht belohnt wird. Der Weise wird nie belohnt. Norbert Adrian ahnt das. Und doch gibt es für ihn nur eine Rechtfertigung seines Lebens: ein Denkender zu werden.

Es muss an der Grunderfahrung seiner Generation liegen. 1942, er war kaum achtzehn Jahre alt, schickte das Vaterland ihn in den Krieg. Im Viehwaggon kam er erst an die Westfront und dann an die Ostfront. In der TV-Geschichtsdokumentation „Soldaten für Hitler“ wird er Jahrzehnte später als Zeitzeuge aussprechen, was damals mit ihm und anderen geschehen ist: „gemordet, ohne gefallen zu sein“. Nur Augenblicke zwischendurch waren anders, Ewigkeitsaugenblicke: in Flandern auf einem Stein sitzen und Flaubert lesen. Vielleicht hat Norbert Adrian seitdem den griechischen Begriff des Glücks, des Glücks der Philosophen, die Ataraxie, den Gleichmut und die Unerschrockenheit der Seele. Seltene Momente des Einsseins mit dem Weltganzen.

Im Gegensatz zu Karl Marx wird Norbert Adrian nie einen Abschluss machen, aus mindestens drei Gründen. Erstens, weil Philosophen mit Diplom oder Doktortiteln eine Albernheit sind. Wahrscheinlich empfand er schon damals eine instinktive Abwehr gegen die Beamten des Denkens. Aber auch weil man, zweitens, ohnehin keine Prüfungen ablegen kann in den wirklich wichtigen Fächern des Daseins. Kriegskinder wie er wissen das. Und drittens hat Norbert Adrian gar keine Zeit für Verwaltungsakte, wie Abschlüsse es sind. Er hat ganz andere Dinge zu schreiben, nämlich Reden für Willy Brandt. Er ist Brandts „Propagandachef“, so hieß das damals. Allerdings wird er in seiner Propaganda jäh unterbrochen, weil zwischen ihm und Willy Brandt plötzlich die Mauer steht. Denn Norbert Adrian wohnt im Osten, in der Lehmbruckstraße. Dass er noch ein halbes Jahr nach dem Mauerbau die DDR verlassen darf, macht ihn vielen suspekt. Das schaffen nur wenige. Ist er gar ein Spion?

Natürlich. Ein Spion des Weltganzen, des Weltinnenraums. Ein Philosoph, der die Dinge von allen Seiten ansieht, vor allem von den verborgenen. So wird die Pechmarie zur Goldmarie, so schreibt er Kinderhörspiele für den SWR und macht für den SFB – als im Radio noch gedacht werden darf – Interviews mit Umberto Eco und anderen. Er gründet im Literaturhaus Fasanenstraße die literarisch-philosophische „Tischgesellschaft“, der er Adornos Wort voranstellt „Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst ohne Stärke zu provozieren.“ Was nicht verhindert, dass mancher die Tischgesellschaft unter Tränen verlässt. Denn Norbert Adrian besitzt die Rücksichtslosigkeit aller Wahrheitssucher, die faulen Denkern begegnen. Und besser reden als die anderen konnte er schon immer.

Er ist, was die Philosophen anfangs fast alle waren, – ein Rhetoriker. Ein eigenes Buch hat er nicht. Wozu? Sokrates hatte auch keins. Mein Leben ist mein Buch, und Gott wird mein Leser sein, hat er gesagt. Aber das hat überhaupt keine Eile!, vergaß er hinzuzufügen.

In den letzten Jahren las seine Lebensgefährtin ihm alle drei Bände von Peter Sloterdijks „Sphären“ vor, knappe 3000 Seiten. Seine Augen waren nicht mehr gut. Gerade begannen sie ein neues Buch, die Vorleserin ging kurz aus dem Zimmer, Norbert Adrian zum Telefon, und bei ihrer Rückkehr fand sie ihn leblos auf dem Boden. Wir brauchen keine Angst zu haben vor dem Tod, wusste ein alter Grieche. Denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr da. Genauso war es. Norbert Adrian ist gestorben wie ein Philosoph.

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