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Wirtschaft: Öffnung der Tarifverträge: Werner Müller im Gespräch: "Abweichungen vom Tarifvertrag müssen möglich sein"

Werner Müller (54) ist der erste Parteilose, der an die Spitze des Bundeswirtschaftsministeriums berufen wurde. 1998 holte ihn Kanzler Gerhard Schröder (SPD) in sein Kabinett, nachdem der Unternehmer Jost Stollmann noch vor Regierungsbeginn auf den Posten verzichtet hatte.

Werner Müller (54) ist der erste Parteilose, der an die Spitze des Bundeswirtschaftsministeriums berufen wurde. 1998 holte ihn Kanzler Gerhard Schröder (SPD) in sein Kabinett, nachdem der Unternehmer Jost Stollmann noch vor Regierungsbeginn auf den Posten verzichtet hatte. Müller, Volkswirt und promovierter Sprachwissenschaftler, war zuvor Manager bei den Stromkonzernen RWE und Veba, wo er zuletzt im Vorstand der Veba Kraftwerke Ruhr saß. 1997 machte er sich als Berater selbstständig. Als Wirtschafts- und Technologieminister führte er die Verhandlungen zum Atomausstieg.

Herr Müller, zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl scheint der Gestaltungswille der Regierung erlahmt zu sein. Frustriert es Sie, dass vorerst alle Reformen auf Eis gelegt zu sein scheinen, etwa in den Bereichen Krankenversicherung oder Arbeitsmarkt?

Es ist noch umfangreicher Gestaltungswille da. Denken Sie an Reformvorhaben in den Bereichen Justiz, Bildung, digitale Wirtschaft, Rente. Manche Reform, Stichwort Gesundheit, ist jedoch schwer geworden, weil sie ein Jahrzehnt lang versäumt wurde.

Oder weil sich starke Lobbygruppen gegen Neues sperren.

Ja, das ist vorgegeben. Das hat diese Bundesregierung gleich nach dem Start bei der Neuregelung der 630-Mark-Jobs und der Definition der Selbstständigkeit erlebt. Politik bedeutet immer auch, Notwendiges gegen Lobbyinteressen durchzusetzen.

Statt enger Regeln könnten Sie doch auch Unternehmen und Beschäftigten die Freiheit gewähren, solche Dinge selbst zu regeln. Dann würde niemand mehr mit abenteuerlichen Konstruktionen versuchen, das Ladenschlussgesetz oder die Tarifbindung zu umgehen. Sie könnten auch die Lohnnebenkosten senken, um die Menschen aus der Schattenwirtschaft herauszuholen.

Gerade die Flucht aus den Sozialsystemen durch 630-Mark-Jobs oder die Umwandlung eines Kellners in einen selbstständigen Handelsvertreter hätte die Wirtschaft selbstregulierend stoppen können. Der Grad staatlicher Regulierung spiegelt immer die Fähigkeit der Marktteilnehmer zur Selbstregulierung wider. Im Übrigen hat die Wirtschaft die Hälfte der hohen Lohnzusatzkosten staatsfrei vereinbart. Auch die gesetzlichen sind unter der Kohl-Regierung enorm gestiegen, auf über 42 Prozent. Wir werden sie bis Ende 2002 wieder auf 40 Prozent absenken. Aber nochmal: Auch die Wirtschaft bestimmt die Höhe der Lohnzusatzkosten.

Daran könnten Sie, Stichwort Arbeitsmarkt-Reform, auch etwas ändern. Wenn der Arbeitsminister nun über ein neues Betriebsverfassungsgesetz redet, dann schlagen Sie doch vor, dass auch auf Betriebsebene Löhne und Gehälter verabredet werden können.

Darüber könnte man diskutieren, wenn nicht Arbeitgeber und Arbeitnehmer diesen Schritt strikt ablehnen würden. Die Unternehmer wollen keine permanenten Lohnverhandlungen in ihrem Betrieb. Etwas anderes hielte ich aber für möglich: Man lässt zu, dass auf Betriebsebene Abweichungen vom Tarifvertrag vereinbart werden können, die aber die Zustimmung beider Tarifvertragsparteien bekommen müssen. So bleibt die Tarifautonomie gewahrt. Das wäre eine sinnvolle Neuinterpretation des Günstigkeitsprinzips.

Als Rezzo Schlauch, Fraktionschef von Bündnis 90/Die Grünen, so etwas vorschlug, kassierte er Prügel von seiner Partei.

Sein Vorschlag hat die besondere Funktion der Tarifpartner nicht genügend gewürdigt. Ich will dagegen ausdrücklich die Tarifautonomie nicht aushebeln. Möglich wäre allerdings, dass durch die fallweise Öffnung ein gewisser Zustimmungsdruck für die Tarifpartner entsteht. Das fände ich nicht so schlimm. Denn deren Funktionäre können nicht so ohne Weiteres Wunsch und Votum der Mitglieder von vor Ort ignorieren.

Sie wollen nach eigenem Bekunden eine Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft. Zugleich wollen Sie aber das Briefmonopol der Post über 2002 hinaus verlängern. Haben Sie Angst vor dem Wettbewerb?

Grundsätzlich nein. Aber Angst vor zukunftslosem, reinem Preiswettbewerb ungleicher Konkurrenten. Deshalb müssen wir unsere Postpolitik mit den Nachbarn abstimmen. Wir wollen eine möglichst frühe Aufhebung des Postmonopols in Europa, der Markt kann nicht liberal genug sein. Damit stehen wir in der EU ziemlich alleine da. Daher sehe ich wenig Sinn darin, den deutschen Markt total dem Wettbewerb zu öffnen und die Post AG der Konkurrenz ausländischer Staatsmonopole mit unbegrenzten finanziellen Ressourcen auszusetzen.

Dieses Ansinnen sowie die angeblich forcierte Demission von Klaus-Dieter Scheurle, dem Präsidenten der Post-Regulierungsbehörde, lassen vermuten, dass in Ihrem Ressort der Grundgedanke des Wettbewerbs nicht unbedingt an erster Stelle steht.

So ein Unsinn. Und was über meinen angeblichen Einfluss auf die Behörde geschrieben wird, ist in der Regel falsch. Ich habe Herrn Scheurle als Präsidenten der Regulierungsbehörde sehr geschätzt und ihm nicht das Leben schwer gemacht. Zwischen uns bestand immer ein vertrauensvolles Gesprächsverhältnis.

Aber Sie haben durch eine Weisung an seine Behörde deren Autorität und Unabhängigkeit in Frage gestellt.

Im Gegenteil, ich habe sie vor Schaden bewahrt. Weisungen in Einzelfällen kann ich sowieso nicht erteilen, nur allgemeine. Und das musste ich ein einziges Mal tun, weil ich der Rechtsauffassung bin, dass das Porto laut Gesetz bis 2002 festgeschrieben ist. Sie sollten wissen, dass die Regulierungsbehörde unabhängiger als das Kartellamt ist.

Aber hat die Behörde nicht durch die Diskussion um den neuen Präsidenten Schaden erlitten? Da scheinen vor allem Proporzdenken und Parteibücher eine Rolle zu spielen.

Für mich ist nicht das Parteibuch wichtig, sondern die Qualifikation. Die ist bei Matthias Kurth, den ich für die Nachfolge Scheurles ausgesucht habe, anerkannt exzellent.

Wir dachten, der Beirat der Behörde hätte über die Nachfolge zu entscheiden, nicht Sie.

Nein, entscheiden muss das Kabinett auf Basis meiner Empfehlung. Der Beirat kann mir aber einen Vorschlag machen. Ich habe Grund zu der Annahme, dass er Herrn Kurth vorschlagen wird - das begrüße ich sehr.

Ihre Weigerung, den Postmarkt auch einseitig zu öffnen, ist ein Richtungswechsel in der Wettbewerbspolitik. Bislang war Deutschland in puncto Liberalisierung Vorreiter. Diese Einseitigkeit ist ökonomisch sinnvoll, beim Strom hat sie ja auch funktioniert.

Preislich ja, aber die Qualität der Stromversorgung sinkt. Der deutsche Strommarkt etwa ist heute so offen, dass selbst das dreckigste Kohlekraftwerk Osteuropas seinen Strom bei uns zu Schleuderpreisen Devisen bringend verkaufen kann. Es kann aber nicht Sinn des Wettbewerbs sein, dass als Konsequenz unsere ökologisch guten Anlagen stillgelegt werden müssen. Ein reiner Preiswettbewerb berücksichtigt keine ökologischen oder energiepolitischen Aspekte.

Sie haben eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft angeregt, um schmutzigen Strom aus Deutschland auszusperren. Die Resonanz der Konzerne war bislang gering. Kommt bald ein Gesetz?

Die Diskussion läuft noch. Der Kanzler, die Stromkonzerne und ich haben vor kurzem zusammengesessen, um darüber zu sprechen. Einige Vorstandschefs sehen ihre Kraftwerke in Gefahr, die still gelegt werden müssten, weil sie den unfairen Preisdruck nicht überleben würden. Die Stromversorgung hier zu Lande muss langfristig sicher sein - das ist sie aber nicht, wenn sie zu sehr auf Importe angewiesen ist. Ich bin verantwortlich dafür, dass wir nicht in kalifornische Zustände geraten.

Das Problem haben Sie sich aber selbst eingebrockt: Erst sind Sie aus der Atomkraft ausgestiegen, und nun wollen Sie die Grenzen für nicht genehme Energie dichtmachen?

Sie werfen einiges durcheinander. Bei ihrem Amtsantritt hat diese Regierung einen Rechtsrahmen für den Strommarkt vorgefunden. Nun zeigt sich, dass dieser Macken hat. Zum Atomausstieg: Unternehmen und Aktionären wird kein Schaden zugefügt. Die Kraftwerke werden dann still gelegt, wenn sie ohnehin vom Netz gegangen wären; also überwiegend 2010 bis 2020. Wir forcieren die Stilllegungspläne der Stromwirtschaft also nicht. Diese haben mit dem Import von schmutzigem Strom nichts zu tun.

Also wollen Sie die deutschen Stromerzeugung schützen?

Ja, denn der Standort Deutschland muss wirtschaftlich sicher bleiben. Bei der Stromerzeugung geht es nicht um Unterwäsche-Produktion, sondern um die Herstellung eines nicht lagerfähigen Gutes, das in der Sekunde erzeugt werden muss, in der die Nachfrage da ist. Wenn Sie die Nachfrage nicht mehr durch inländische Kraftwerke decken können, droht, dass sie den Verbrauchern zeitweise den Strom sperren müssen, siehe Kalifornien.

Statt sich gegen schmutzige Billigkonkurrenz abzuschotten, könnten Sie auch versuchen, mit den entsprechenden Ländern Vereinbarungen zu treffen - etwa wie im Fall Tschernobyl.

Das haben wir auch versucht. Länder wie die Ukraine lehnen das aber ab, weil sie ihre Kraftwerke als Devisenbringer betrachten. Es kann und darf aber nicht sein, dass wir unsere Devisen gegen großflächige Verschmutzungen oder Gefährdungen durch Atomunfälle eintauschen.

Mit der Subventionierung der Kraft-Wärme-Kopplung schaffen Sie rentabel arbeitenden Kraftwerken hier zu Lande zusätzliche Konkurrenz. Das verzerrt den Markt nicht?

Energiepolitik ist immer auch Marktsteuerung. Der reine Preiswettbewerb regelt nicht alles. Ohne politische Unterstützung würde in diesem Land kein Strom aus Wind oder Sonne erzeugt, und Brennstoffzellen würden erheblich später einsatzreif werden.

Wenn der Anteil an umweltfreundlich erzeugtem Strom aber zunehmen soll, wie Sie es anstreben, geraten wir in ein paar Jahren in eine riesige Subventionswirtschaft.

Das bin ja nicht nur ich, auch andere. Europäisches Recht verpflichtet uns, den Anteil an Strom aus Sonnenergie deutlich zu erhöhen. Es ist wichtig, dass die Subventionen spezifisch sinken, also je erzeugter Kilowattstunde - das Gesamtvolumen kann dann nur vorübergehend steigen. Wir konzentrieren die Subventionen auf solche Techniken, die in der Zukunft wirtschaftlich Strom erzeugen können.

Stromerzeugung aus Sonne wird in diesen Breitengraden kaum je wirtschaftlich sein.

Doch, teilweise schon. Windstromanlagen werden wirtschaftlich. Die Förderung über den Strompreis zielt auch darauf ab, Techniken wie die Photovoltaik für den Export in sonnenreiche Länder zu entwickeln.

Zwei Jahre nach der Deregulierung des Strommarktes scheint der Wettbewerb dort angesichts hoher Preise und Problemen beim Anbieterwechsel noch immer nicht zu funktionieren. Warum lassen Sie die Post-Regulierungsbehörde nicht auch die Bereiche Gas, Wasser und Strom überwachen?

Am besten wäre es, wenn der Wettbewerb ohne Staatseingriff funktionieren würde. Laut Rechtsrahmen sollen die Strom- und Gaskonzerne das unter sich regeln. Das funktioniert aber nicht so, wie ich mir das vorstelle. Das Kartellamt und mein Haus bekommen immer mehr Beschwerden: Durchleitungsentgelte werden nicht veröffentlicht, Versorger drohen Kunden mit Wechselgebühren oder übermäßiger Bürokratie. Beim Gas wollen sich die Marktpartner erst gar nicht Regeln geben, beim Strom halten sich viele nicht an das Regelwerk. Offensichtlich besteht Handlungsbedarf, über den ich mit dem Kartellamtspräsidenten im Gespräch bin. Klar ist: Wenn die Wirtschaft die Chance der Selbstregulierung nicht ergreift, kommt eine staatliche Regulierung - sie ist in Vorbereitung.

Herr Müller[zwei Jahre vor der nächsten]

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