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Bis zum Umfallen. Süchtige überlasten sich lieber mit Arbeit, als sich mit innerer Leere und Konflikten mit dem Partner oder der Familie auseinanderzusetzen. Foto: dpa/picture alliance

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Wirtschaft: Ohne Pause

Rund jeder achte Arbeitnehmer ist gefährdet, arbeitssüchtig zu werden. Was sich hinter der Krankheit verbirgt – und wie man ihr vorbeugt

Die Kollegen sind längst gegangenen, als Sabine F. noch im Büro sitzt und sich durch die Berge von Unterlagen arbeitet. Auch ihr E-Mail-Fach muss sie noch durchsehen und dann ist da noch der Auftrag ihrer Chefin. Bis morgen früh muss sie damit durch sein. Sie zieht sich einen Kaffee aus dem Automaten und macht sich ans Werk. Auch heute wird es wieder spät werden.

Sabine F. ist eine fiktive Person. Doch sie steht für ein Phänomen, das in der Arbeitswelt keine Seltenheit mehr ist. Menschen wie sie sind den größten Teil des Tages gedanklich gefangen in ihrer Arbeit. Sie machen keine Pausen, bleiben lange nach Feierabend im Büro. Ein Leben ohne Arbeit ist für sie undenkbar. Sogar im Urlaub ist das Smartphone dabei. Abschalten unmöglich. Dabei geht es nicht um Spaß oder die Herausforderung. Arbeit ist für sie Zwang.

Das Phänomen heißt Arbeitssucht. Es tritt in westlichen Gesellschaften auf, die auf Leistung und Effizienz ausgerichtet sind und in denen beruflicher Erfolg besonders hoch gewertet wird. „Rund 13 Prozent der Arbeitnehmer sind zumindest gefährdet“, sagt der Diplom-Psychologe Stefan Poppelreuter. Er hat über Arbeitssucht promoviert und ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema. Wie viele Menschen wirklich betroffen sind, sei schwer zu sagen, da es keine allgemein anerkannte Definition gäbe. Doch so viel stehe fest: Es werden immer mehr.

Betroffen sind junge Menschen wie alte, Frauen wie Männer, Top-Manager wie Hausfrauen. Wie beim Burnout, dem Ausgebranntsein von der Arbeit, sind es vor allem Angehörige helfender Berufe, die arbeitssüchtig werden: Mediziner, Pfleger, Psychologen. Auch in Berufen, in denen es keine festen Zeitvorgaben gibt, wie bei Selbstständigen, oder die Aufgaben weniger klar eingegrenzt sind und großen kreativen Spielraum bieten, wie bei Lehrern, Journalisten oder Forschern, kommt die Sucht tendenziell öfter vor.

Doch wann kann man eigentlich von Arbeitssucht sprechen? „Jemand, der viel arbeitet und den Beruf zum Lebensmittelpunkt macht, ist nicht zwangsläufig süchtig“, sagt der Professor für Arbeits- und Gesundheitspsychologie an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld, Tim Hagemann. Bedenklich werde es, wenn negative soziale oder körperliche Folgen für den Betroffenen auftreten.

„Ob jemand wirklich süchtig ist, lässt sich nicht an der reinen Zahl der Arbeitsstunden messen“, sagt auch Psychologe Poppelreuter. Zwei Schlüsselkriterien weisen auf Arbeitssucht hin: Zum einen der Kontrollverlust, also etwa das regelmäßige Arbeiten über Feierabend hinaus, weil man meint, dass es keinen anderen Weg gibt, sein Arbeitspensum zu schaffen. Zum anderen die „Abstinenzunfähigkeit“, also das Unvermögen auf Arbeit zu verzichten.

Die Betroffenen sind süchtig nach dem Gefühl, etwas tun zu müssen und gebraucht zu werden. Ein freier Tag ist für sie alles andere als ein Vergnügen. Typisch ist auch, dass Arbeitssüchtige sehr leistungsorientiert sind, einen Hang zum Perfektionismus haben und wenig flexibel sind, wenn es darum geht, unerwartete Probleme zu lösen.

Irgendwann wirkt sich der psychische Leidensdruck auch körperlich aus. Es kann zu Magengeschwüren, Kopfschmerzen oder Kreislaufproblemen kommen. Im schlimmsten Fall droht ein Burnout, ein Zusammenbruch, der oft nach einer extremen Arbeitsphase eintritt. Es folgt ein Zustand der totalen Erschöpfung und inneren Leere.

Wie bei anderen Süchten sind die Ursachen vielfältig. Als anfälliger gelten Erwachsene, die sich als Kinder die elterliche Zuwendung vor allem durch Leistung erkämpfen mussten. Der allgegenwärtige gesellschaftliche Leistungsanspruch verstärkt die Veranlagung.

Das Ziel aber, das durch das hohe Arbeitspensum erreicht werden soll, ist meist das Gleiche: Man stürzt sich, mehr oder weniger unbewusst, lieber in die Arbeit, als sich mit negativen Gefühlen oder Konflikten in Partnerschaft und Familie zu konfrontieren. „Die Arbeitswelt gilt als weitgehend ent-emotionalisiert, deshalb ist die Arbeit so ein gutes Instrument für die persönliche Stimmungsregulation“, erklärt Poppelreuter.

Viel zu arbeiten heißt aber nicht unbedingt auch gute Leistungen zu erzielen. Der Psychologe geht davon aus, dass betroffene Menschen sogar weniger effektiv sind, da sie oft ein schlechtes Zeit- und Organisationsmanagement haben.

Auch für Arbeitgeber ist Arbeitssucht also kein Gewinn. „Für ein solides Unternehmen, das langfristig seine Mitarbeiter binden und gute Leistungen erzielen will, kann es kein Weg sein, auf Workaholics zu setzen“, sagt Arbeitspsychologe Hagemann. Langfristig erlitten diese Mitarbeiter gravierende Leistungseinbrüche.

„Viele haben die Arbeitssucht als Krankheit noch gar nicht wahrgenommen“, meint Petra Bauer von der Suchtkrankenhilfe des Blauen Kreuzes. Doch das Bewusstsein für die Krankheit steige. Auch die Zahl der Selbsthilfegruppen und therapeutischen Einrichtungen, die sich mit dem Phänomen befassen, nimmt zu. Bei den Krankenkassen ist Arbeitssucht jedoch noch nicht als Krankheitsbild geführt. Entsprechend gäbe es auch keine direkten Therapiemöglichkeiten, sagt eine Sprecherin der AOK.

Auch Suchthilfeeinrichtungen wie der Verein Tannenhof behandeln nicht speziell die Arbeitssucht, sondern Suchtverhalten im Allgemeinen. Dennoch sind sie Ansprechpartner für Betroffene. Auch die Selbsthilfegruppe Anonyme Arbeitssüchtige (AAS) hilft weiter, wenn der Job zum Zwang wird. Denn auch wenn arbeiten über den Feierabend hinaus als ambitioniert und tüchtig gilt – es kann der falsche Weg sein.

Laura Gitschier

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