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Wirtschaft: Preise, die Angst machen

Deflation, Pleitewelle, Dauerkrise – die Wirtschaft rutscht immer weiter ab. Der Bundesrepublik droht eine gefährliche Spirale, warnen Experten

DEFLATIONSGEFAHR IN DEUTSCHLAND – HERRSCHEN BEI UNS BALD JAPANISCHE VERHÄLTNISSE?

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Von Carsten Brönstrup

und Henrik Mortsiefer

Wichtige Themen in der Berliner Politik erkennt man meist daran, dass sie von höchster Stelle im Brustton der Überzeugung zu einem Nicht-Thema erklärt werden. „Damit rechnet die Bundesregierung nicht“, wiegelt Kanzler Gerhard Schröder dann ab. „Davon müssen wir nicht ausgehen“, schönfärbt sein Finanzminister Hans Eichel. „Das ist nicht zu erkennen“, beschwichtigt ein hoher Beamter im rot-grünen Koalitionsapparat besorgte Fragesteller.

Das Statistische Bundesamt belehrte am vergangenen Freitag alle eines Besseren. Um 0,2 Prozent sanken im April die Lebenshaltungskosten in Deutschland, teilte die Behörde mit, die Jahresrate war die geringste seit 1999. Schon seit Monaten hält sich die Preissteigerung nur knapp über der Nulllinie. Das bedeutet: Das Land steht am Rand einer Deflation, einer gefährlichen Spirale von sinkenden Preisen und schrumpfender Wirtschaft. Für Wirtschaftsforscher ist diese Entwicklung ein gruseliges Szenario – für den Internationalen Währungsfonds (IWF) sogar ein ernst zu nehmendes Risiko: In einer neuen Studie nennt er die Deflationsgefahr für die Deutschen „beträchtlich“. Und Fachleute wie Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, warnen vor einer „dramatischen Entwicklung“ mit „tief greifenden ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen“.

Gefangen im Sumpf

Warum die nackten Zahlen die Ökonomen derart alarmieren, zeigt ein Blick nach Japan. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt kämpft seit vier Jahren mit sinkenden Verbraucherpreisen. Sie lähmen das Land wie keine andere Industrienation: Die Wirtschaftsleistung schrumpft, Arbeitslosigkeit und Staatsschulden steigen ungebremst, und allmählich sinkt der Lebensstandard der einst so wohlhabenden Japaner. Ein Gegenrezept hat die Regierung in Tokio bislang nicht entdeckt. „Eine Deflation ist wie ein Sumpf – je tiefer man drinsteckt, desto schwerer kommt man wieder heraus“, sagt Wolfgang Häuser, Japan-Experte der ING BHF-Bank.

Womöglich bekommt Japan bald Gesellschaft im Morast der Weltwirtschaft. „Deutschland beschreitet derzeit genau den gleichen verhängnisvollen Weg“, warnt Heiner Flassbeck, Chefökonom der UN-Entwicklungsorganisation Unctad in Genf und einst Staatssekretär im Bundesfinanzministerium.

Tatsächlich sind die Parallelen zu Fernost frappierend: Vor Beginn der Deflation schaffte Japan jahrelang nur ein mickriges Wachstum – Deutschland erlebt gerade die zweite Rezession innerhalb dreier Jahre. Vor Beginn der Deflation schoss der Wert des japanischen Yen um mehr als 50 Prozent in die Höhe – der Euro hat allein seit Januar um mehr als zwölf Prozent zugelegt. Vor Beginn der Deflation erlebten Japans Banken den Beginn der tiefsten Krise ihrer Geschichte – auch die deutschen Finanzhäuser stecken in der schwierigsten Lage seit 1948. Und vor der Deflation verfolgten Japans Firmen eine äußerst rigide Lohnpolitik – in Deutschland stiegen die verfügbaren Einkommen der Haushalte 2002 nur um 1,0 Prozent – das geringste Plus seit Bestehen der Bundesrepublik.

Unctad-Experte Flassbeck findet das fahrlässig. „Die Löhne sind beim Kampf gegen die Deflation die entscheidende Größe“, mahnt der einstige Lafontaine-Berater. Seit Mitte der 90er Jahre sind die Lohnsteigerungen hier zu Lande eher dürftig ausgefallen. Die Reallöhne sollten immer so stark steigen wie die Produktivität, findet er. Das ist aber nicht geschehen. Die Agenda 2010 von Kanzler Schröder setze noch einen drauf – „sie ist zum Teil ein Lohnkürzungsprogramm und verstärkt die Deflationsgefahr“. Grund: „Wenn die Arbeitnehmer in Zukunft das Krankengeld allein bezahlen müssen, ist das eine klassische Lohnkürzung.“ Dadurch sparten die Unternehmen zwar Kosten, müssten aber auch mit sinkender Nachfrage rechnen. Flassbeck: „Mit den gleichen Fehlern hat die Regierung Brüning die große Wirtschaftskrise im Jahr 1930 ausgelöst.“

Doch wie jeder Vergleich hinkt auch der zwischen Deutschland und Japan, findet Annette Kuhn, Fernostexpertin beim Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). „Einen zusammengebrochenen Immobilienmarkt und ständig neue faule Kredite, die das Finanzsystem belasten, gibt es in der Bundesrepublik noch nicht“, beruhigt sie. Und auch für ein Ende des Kaufstreiks der Bürger gebe es Indizien – mithin müsse die Wirtschaft nicht befürchten, auf ihren Produkten sitzen zu bleiben und die Preise weiter senken zu müssen.

Keine Hilfe von der Zentralbank

Doch Abwarten reicht nicht, sagt Deutsche-Bank-Experte Walter. „Wer die Sorgen vor einer Deflation wegwischt, ist in meinen Augen leichtfertig.“ Sein Gegenrezept: Die für 2004 geplante Steuerreform müsse vorgezogen werden. Außerdem solle die Europäische Zentralbank (EZB) schleunigst die Leitzinsen senken – das könnte die Unternehmen ermutigen, mehr Kredite für Investitionen aufzunehmen. Aber bislang halten die Währungshüter stur an ihrer rigiden Geldpolitik fest. Noch am Sonnabend sagte Ottmar Issing, Direktoriumsmitglied der EZB: „Ich sehe die Spekulationen über Deflation mit großer Sorge, denn daraus können Entwicklungen resultieren, für die es bisher im Grunde noch gar keinen Anlass gibt.“

Ob niedrige Zinsen tatsächlich helfen würden, ist unter Fachleuten umstritten – in Japan hat die Zentralbank damit keinen Erfolg gehabt. „Es gibt kein politisches Wundermittel gegen eine Deflation“, sagt Unctad-Mann Flassbeck. „Das Beispiel Japan zeigt, dass auch ,Deficit spending’ des Staates und Nullzinsen nicht immer ein Ausweg sind.“

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