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Produktpiraterie: Das Kopierwerk

Nicht nur auf See, nicht nur in Parlamenten. In der heutigen Folge unserer Sommerserie geht es um Piraten in der Wirtschaft. Deutschland entsteht durch Produkt- und Markenklau jährlich ein hoher Milliardenschaden. Ein Staubsaugerhersteller aus Stuttgart hat erlebt, was es heißt, sich in China auf die Jagd zu begeben.

Die Messe, auf der die Sauerei offenbar wurde, heißt „China Clean“. China Sauber.

Das Jahr, in dem die Sauerei offenbar wurde, war in China das Jahr des Büffels, das Wohlstand jenen verhieß, die hart arbeiteten und einen langen Atem hatten.

Der Mann, dessen Sauerei offenbar wurde, wollte lieber schnell und mit wenig Arbeit wohlhabend werden. Er heißt Herr Sun. Herr Sun hat Staubsauger und Staubsaugerkataloge der Firma Starmix aus Reichenbach bei Stuttgart kopiert. Weshalb der Mann, der diese Straftat aufdeckte und sich für ihre, alle wirtschaftlichen Bedenken ignorierende Verfolgung entschied, an einem Sommertag auf ein rechtschaffenes Baden-Württemberg blickt.

Roman Gorovoy steht am Fenster seines Büros. Unter ihm ein Firmenparkplatz, rechts eine Zufahrt, links der Seitenflügel eines Produktionsgebäudes, auf der Kachelfassade der große, alte Schriftzug „Electrostar“. Traditionsunternehmen, 1921 gegründet, Hersteller von Industriestaubsaugern und Haushaltsgeräten, Markenname „Starmix“. Ausstatter der westdeutschen Wirtschaftswunderküchen, Erfinder des Warmluft-Händetrockners und zuletzt nun ein sich wehrendes Produktpiratenopfer. Gorovoy ist der Chef hier.

„He Junge, geh heim. Mach uns hier das Geschäft nicht kaputt.“ Das waren die beiden bemerkenswertesten Sätze, sagt Gorovoj, die er auf der „China Clean“-Messe im März 2009 zu hören bekam.

Gorovoy, damals 27 Jahre alt und in China-Dingen unerfahren, war von Stuttgart über Amsterdam nach Schanghai geflogen und fand dort eine große Halle vor. Er baute einen kleinen Messestand auf, 25 Quadratmeter groß, in Sichtweite des vielleicht fünfmal größeren der Firma Kärcher, des Giganten der internationalen Schmutzentfernungsindustrie. Dann machte er einen Gang durch die Halle und stieß auf einen Stand, so groß wie der von Kärcher, aufgebaut von der chinesischen Firma Shanghai Lerong Industrial, auf dem Starmix-Produkte präsentiert wurden: Starmix-Staubsauger, versehen mit Starmix-Typenschildern, verpackt in Starmix-Verpackungen, beschrieben in Starmix-Katalogen. Nur dass eben der Name Starmix fehlte.

Gorovoy, so erzählt er es, hatte zwei Gedanken in jenem Moment: „Die mach‘ ich fertig“ und „Was mach‘ ich jetzt?“.

Er wusste, dass ein Vertreter deutscher Firmeninteressen, der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer, irgendwo auf der Messe war, da würde er hingehen und fragen. Er suchte nach den Deutschen, und dabei wählte er die Telefonnummer eines Schulfreundes, von dem er wusste, dass es ihn nach Schanghai verschlagen hatte.

Der angerufene Apparat steht auf der anderen Seite des Flusses Huangpu, der Schanghai durchkreuzt. Er steht im 28. Stock von Tower 2 des Plaza 66 an der Nanjing Road West, wo die internationale Kanzlei CMS seit 2007 residiert. An klaren Tagen haben die Angestellten einen weiten Blick von hier aus. Aber klare Tage sind selten in Schanghai. Gorovoys Schulfreund ging ran, hörte kurz zu und übergab an Falk Lichtenstein. Die Männer verabredeten einen Termin, gleich, noch an diesem 30. März 2009.

Gorovoy kam mit dem Taxi in die Nanjing Road West. Er brachte Staubsaugerkataloge mit, von Starmix und Lerong, die sie auf dem Konferenztisch ausbreiteten. Fotos und Produktinformationen von rollbaren Riesensaugern für Nass- und Trockenflächen, ein- oder zweimotorig, mit pneumatischen Wasserstandserkennungen und Kippfahrgestellen. Die Männer verglichen die Fotos. Keine Unterschiede, außer die Namen: Sie waren mit simplen Computerprogrammen ausgetauscht worden. Staubsaugerfotografie ist eine komplizierte Angelegenheit. Eine Fotoagentur in Deutschland hat alle 200 Sauger in dem Katalog fotografiert. Eine ganze Woche hat das gedauert. Noch so eine Anstrengung, die Herr Sun vermied.

Lichtenstein schickte Gorovoy und den chinesischen CMS-Anwalt Colin Liu wieder zur Messe, damit sie das IP-Büro in Kenntnis setzen. IP steht für Intellectual Property: Kopierschutz für Ideen und Entwicklungen. Jede Messe in China hat so ein Büro. Im IP-Büro von „China Clean“ war man empört über den Fall. Man glaubte Gorovoj, obwohl die herbeizitierten Leute von Lerong das Gegenteil behaupteten. Die Messeleitung zwang Lerong, alles, was um die kopierten Produkte herumdrapiert war, die Kataloge, die Verpackungen, vom Stand zu nehmen. Der Stand war danach halbleer. Aber Lerong war immer noch in der Lage, kopierte Staubsauger zu verkaufen.

Was war zu tun?

Als in China das Jahr des Büffels war, gab in Deutschland das Bundeswirtschaftsministerium eine Studie heraus, derzufolge der deutschen Wirtschaft durch die Produkt- und Markenpiraterie ein jährlicher Schaden in Höhe von 50 Milliarden Euro entsteht. Was also tun?

Lichtenstein schrieb am 1. April einen Brief, Adressat: Lerong Industrial, Inhalt: Entweder unterlassen Sie ab sofort das Kopieren der Starmix-Staubsauger, oder es folgen rechtliche Schritte.

Aber gegen welches Gesetz hatte Lerong verstoßen? Verstießen die Kopierer gegen den Patentschutz? Nein. Die kopierten Sauger waren ja aus einer Generation, für die Starmix kein Patent in China angemeldet hatte. Verstießen sie gegen den Designschutz? Auch nicht. Das Design, weil nicht neu, war nicht geschützt. Nur bei den Fotos konnte eine Copyright-Verletzung nachgewiesen werden. Sie hätten also wegen raubkopierter Fotos von 200 Staubsaugern vor Gericht ziehen können. Albern.

Aber dann hatten sie noch eine Idee. Sie wussten, dass Lerong einen Teil seiner Fälschungen unter dem Markennamen der Reichenbacher verkaufte, konnten es aber nicht beweisen. Sie würden also Privatdetektive beauftragen, bei Lerong als Käufer aufzutreten. Wenn Lerong ihnen nun Starmix-Produkte lieferte, hätten sie einen Beweis für kriminelles Handeln. Colin Liu hatte die nötigen Kontakte. Erstens zu einem vertrauenswürdigen Detektivbüro und zweitens zu einem Notar, der mit den Detektiven mitgehen müsste, denn ohne notarielle Beglaubigung würden deren Ermittlungsergebnisse nicht als gerichtsfest gelten.

Gorovoy, da längst wieder zurück in Deutschland, las in einer E-Mail von Colin Liu, dass ab sofort strengste Geheimhaltung gelte: kein Wort zu niemandem, keine Mails in Kopie mehr senden.

Denn, das weiß jeder, der in China mit Fälschungen zu tun hat: Oft kommen die Produktpiraten aus dem Umfeld der Firma, deren Produkte sie kopieren. Mal sind es ehemalige Mitarbeiter der chinesischen Niederlassungen von ausländischen Firmen, mal die Ehefrauen der Niederlassungsmitarbeiter, mal die Niederlassungsleiter selbst. Im Fall von Herrn Sun war es auch so. Er war Mitarbeiter beim chinesischen Starmix-Vertrieb gewesen, bevor er sich mit Lerong selbstständig gemacht hatte.

Die Detektive fuhren in den Minhang District und wurden von einer jungen Mitarbeiterin im schmucklosen Ausstellungsraum herumgeführt, in dem Staubsauger standen. Danach trafen sie Herrn Sun, den sie später in ihrem Bericht als „etwa 35 Jahre alt, einen Meter 75 groß und ein bisschen fett“ beschrieben. Herr Sun sagte, seine Staubsauger seien genauso gut wie Starmix-Produkte, aber viel billiger. Wenn die Kunden aber Starmix-Produkte wollten, liefere er zum selben Niedrigpreis. So wurde eine Probelieferung von zwei Staubsaugern vereinbart, dann gingen die Detektive.

Am 15. Mai kamen sie wieder und holten die Ware ab. Sie zahlten bar.

Herr Sun war nicht zugegen. Ein Notar auch nicht. Der kam mit beim Folgekauf. Am 5. Juni vereinbarten die Detektive den Kauf von acht weiteren Staubsaugern. Am 11. Juni fuhren sie wieder zu der Fabrik. Wieder zahlten sie in bar und nahmen die Ware mit. Am 15. Juni ging beim Detektivbüro die notarielle Beglaubigung des Vorgangs ein. Nun hatten Gorovoys Anwälte den gerichtsfesten Beweis: Lerong Industrial fälschte Starmix-Staubsauger und verkaufte die.

Die anwaltliche Arbeit, die Detektive und der Notar – das hatte bis dahin alles bereits Kosten in Ausmaßen verursacht, die Roman Gorovoy veranlassten, in mehreren seiner E-Mails nach China darauf hinzuweisen, dass der finanzielle Aspekt bei allen künftigen Schritten bitte immer mit zu berücksichtigen sei.

Trotzdem entschied er sich dann doch für den teureren Weg, als es darum ging, wie Herrn Sun und seiner Lerong Industrial Co. Ltd. beizukommen sei.

Man kann, das erläutert Falk Lichtenstein an einem Sommertag im Jahr 2012 von seinem Schanghaier Büro aus, in China zwei Wege gehen, die je ihre Vor- und Nacheile hätten. Erstens den behördlichen Weg. Der Vorteil sei, dass die Behörde gratis und schnell arbeite. Der Nachteil, dass sie keinen Schadenersatz herausschlage und dass sie nur bei glasklaren Fällen tätig werde. Und der Fall Starmix/Lerong mit dem anfänglichen Umweg über die Katalogfotos schien doch eher kompliziert zu sein. Der zweite Weg führe über die Gerichte. Die könnten Schadenersatz zubilligen und bearbeiteten auch komplizierte Fälle. Der Nachteil sei, dass die Gerichte lange brauchen und dass vor ihnen nur chinesische Kanzleien prozessberechtigt sind. Da CMS ein internationaler Kanzleienverbund, aber nicht genuin chinesisch ist, brauchte man also einen lokalen Anwalt.

Und noch etwas sagt Falk Lichtenstein. Dass man sich chinesische Gerichte keinesfalls vorstellen dürfe wie deutsche. In wichtigen Fällen entscheide die Partei, ein Richter sei in der Regel ein niedriger Kaderbeamter mit schlechter Bezahlung und ohne hohes Ansehen. Entsprechend verliefen Prozesse. Kaum einer der Beteiligten komme pünktlich, der Richter trage Freizeitkleidung, alle rauchten „und hören damit nicht mehr auf“, sagt Lichtenstein. Für Ausländer sei das schwer erträglich und ende meist mit Kopfschmerzen.

Vor so einem Gericht kam dann die Klage auf die Tagesordnung. Allerdings war erst die Klageschrift nicht zustellbar, weil eines der Unternehmen von Lerong Industrial nicht mehr an der alten Adresse anzutreffen war. Dann konterte der Anwalt von Lerong die Klage mit einer Gegenklage wegen Rufschädigung. Dann behauptete er, die Beweise von Starmix seien gefälscht. Dann sagte er, der Notar, der die Detektivarbeit beglaubigt hatte, habe Unterlagen gefälscht, und drohte mit einer Beschwerde bei der Schanghaier Notarkammer. Und das alles, nachdem er vor Prozessbeginn den Anwalt von Starmix gefragt hatte, ob man sich nicht privat einigen und die Honorare aufteilen wolle.

Es nützte alles nichts. Der Prozess lief an, und er lief nicht gut für Lerong.

Die Detektive von Junction IP hatten im Internet ein Interview gefunden, das Herr Sun einem chinesischen Internetradio gegeben hatte. Darin sagt er, dass er schon als Kind lieber Business gemacht habe als zu lernen. In China ist das eine sehr aufrührerische Ansage. Das Interview wurde im Gerichtssaal vorgespielt. Herr Sun prahlt darin auch mit dem Erfolg seiner Staubsaugerfirma und nennt Umsatzzahlen.

Das widersprach dem, was er vor Gericht ausgesagt hatte. Dort hatte er sich mit der Behauptung verteidigt, dass er ja nur ein paar wenige Staubsauger mal gefälscht habe. Dass daraus niemandem ein Schaden entstanden sein könne.

Drei oder vier Gerichtstermine gab es, ansonsten wurden Papiere verschickt. Umständlich war das Besorgen der Unterlagen. Die mussten in beglaubigter und überbeglaubigter Form dargebracht werden – Lichtenstein: „ungeheure formale Anforderungen“ – weshalb die Sekretärin von Roman Gorovoy mehrmals durch Deutschland fuhr, um Unterschriften von Notaren von Landgerichtspräsidenten beglaubigen zu lassen und deren Unterschriften wiederum vom Bundesverwaltungsamt und dessen Unterschrift wiederum von der chinesischen Botschaft. Das galt für Vollmachten, für Fotonachweise, für die Tatsache, dass die Firma Electrostar tatsächlich die Firma Electrostar war.

Trotz dieser Umständlichkeiten kam es am 14. November 2011 zu einem letztinstanzlichen Urteil. Nachdem das erstinstanzliche von Lerong angefochten worden war, bekam Electrostar jetzt eine Entschädigung von 20 000 Euro.

Falk Lichtenstein seufzt ins Telefon. Herr Sun müsse hinter Schloss und Riegel, sagt er. Lerong sei doch nur eine seiner Firmen gewesen, der mache weiter.

In Gorovoys Büro hängen drei große, gerahmte Fotos an der Wand. Sie symbolisieren die drei großen Electrostar-Märkte Deutschland, Russland und China. Zu sehen sind der Stuttgarter Schlossplatz, der Kreml und Pekings Verbotene Stadt. Rechts daneben eine Stoffbahn, bedruckt mit chinesischen Schriftzeichen. Was darauf stehe? „Irgendeine Lebensweisheit, ich hab sie vergessen.“

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