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Religionsfreiheit: Refugien für die Religion

Christen, Juden und Muslime – am Arbeitsplatz wie im Alltag haben Gläubige Rechte, müssen aber auch Rücksicht nehmen.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein säkularer Staat. Daraus folgern manche, dass Religion reine Privatsache sei und in der Öffentlichkeit, einschließlich der Arbeitswelt, nichts zu suchen habe. Diese Schlussfolgerung ist unzutreffend. Säkularität heißt nicht Religionsfeindlichkeit. Religionsfreiheit zählt vielmehr zu den klassischen, national und international geschützten Menschenrechten. Die Formulierungen in Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Art. 4 Grundgesetz (GG) machen deutlich, dass Religion auch ihren Platz im öffentlichen Raum hat.

Darauf können sich alle Religionen gleichermaßen berufen: Säkularität des Staates bedeutet auch Neutralität gegenüber Religionen und ihre Gleichbehandlung. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) schützt ArbeitnehmerInnen zudem vor Diskriminierung aus religiösen Gründen (Paragrafen 1, 7 AGG).

Selbstverständlich kann Religionsfreiheit nicht grenzenlos beansprucht werden. Je nach Sachlage ist ihre Ausübung mit möglicherweise kollidierenden Grundrechten anderer oder Staatsinteressen abzuwägen. Das gilt auch in der Arbeitswelt. In Deutschland muss für die Religionsfreiheit von ArbeitnehmerInnen am Arbeitsplatz danach unterschieden werden, ob sie in Diensten eines privaten Unternehmens oder aber des Staates und seiner Untergliederungen stehen. Sonderregeln gelten für Religionsgemeinschaften als Arbeitgeber (vgl. Paragraf 9 AGG) wie etwa die Kirchen und ihre Organisationen als insgesamt zweitgrößte Arbeitgeberinnen nach dem Staat.

Religiöse Rituale können für Konfliktstoff sorgen

Es überrascht nicht, dass in der Gerichtspraxis vor allem Sachverhalte verhandelt werden, die religiöse Minderheiten betreffen, im christlichen, vor allem aber im außerchristlichen Spektrum. Hierfür sind drei Hauptursachen erkennbar: Zum einen ist die Regelung des öffentlichen Lebens weitgehend auf Angehörige der christlichen Mehrheitskonfessionen ausgerichtet. Deren hohe religiöse Feste sind weiterhin auch (säkularisierte) staatliche Feiertage. Konflikte mit Arbeitspflichten werden so schon von vornherein weitgehend vermieden. Zum zweiten sind religionspraktische Vorschriften, welche mit dem Arbeitsablauf kollidieren könnten, in den christlichen Mehrheitskonfessionen eher schwach ausgeprägt, insbesondere im Vergleich zum orthodoxen Judentum und den religionspraktischen Richtungen des Islam.

Hier können die Einhaltung von zeitgebundenen rituellen Gebeten, religiösen Feier- und Festtagen oder Pilgerfahrten, die eben nicht auf staatliche Feiertage fallen, Speise- und Bekleidungsvorschriften und manches andere für Konfliktstoff sorgen. Nicht zuletzt mögen sich Probleme aus dem Umstand ergeben, dass Minderheitsreligionen, insbesondere die Richtungen des Islam, in Deutschland in der Breite eine vergleichsweise junge Erscheinung meist im Zusammenhang mit Migrationsvorgängen darstellen.

Die Religionsausübung gerade in Gruppen mit niedrigem Sozialprestige (gering qualifizierte ArbeitsmigrantInnen) gerät schnell in Verdacht, früher bei katholischen polnischen Staatsangehörigen in Preußen, heute bei muslimischen TürkInnen und anderen in Deutschland insgesamt. Umso wichtiger ist es, dass Eindrücke und Gefühle der Fremdheit nicht sogleich in Ablehnung umschlagen. Rechtsstaatliche Grundsätze bewähren sich gerade im Umgang mit Minderheiten.

„Jesus hat Sie lieb“

Dennoch finden sich auch immer wieder arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen mit christlichen ArbeitnehmerInnen: So hielt das Landesarbeitsgericht Hamm im Jahre 2011 die fristlose Kündigung eines Arbeitnehmers in einem Call-Center für gerechtfertigt, der entgegen der vorgeschriebenen Standard-Verabschiedungsfloskel beharrlich ein „Jesus hat Sie lieb“ hinzugefügt hatte. Der EuGH hielt die Kündigungsandrohung gegen eine christliche britische Staatsangestellte für gerechtfertigt, die sich aus Glaubensgründen geweigert hatte, gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu registrieren.

Einige andere Entscheidungen betreffen vorwiegend muslimische ArbeitnehmerInnen. Für sie alle gelten die gleichen rechtlichen Regelungen und Maßstäbe.

In privaten Arbeitsverhältnissen gilt sowohl das AGG als auch das Grundrecht der Religionsfreiheit, allerdings in einer abgeschwächten „mittelbaren“ Wirkung: Während der Staat sich nicht auf eigene Grundrechte berufen kann, steht dies privaten Unternehmen im Hinblick auf ihre betrieblichen Interessen sehr wohl zu.

Dabei gibt es allerdings Einschränkungen aus der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. Dies betrifft beispielsweise die Auslegung, wann ein „wichtiger Grund“ vorliegt, der die außerordentliche (sofort wirksame) Kündigung rechtfertigen kann. Hierfür bedarf es stets einer Abwägung, ob sachlich plausibel begründete betriebliche Bedürfnisse oder die ebenso sachlich plausibel begründeten Bedürfnisse des einzelnen Arbeitnehmers vorgehen.

Das hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Die Plausibilitätsprüfung bei der Geltendmachung religiöser Gebote erfordert besondere Sorgfalt, welche die Säkularität der Rechtsordnung respektiert: So dürfen Gerichte nicht etwa schlicht auf innerreligiöse Mehrheitsmeinungen oder Autoritäten verweisen, wenn ArbeitnehmerInnen sich auf innerreligiöse Minderheitspositionen berufen, welche nicht schlechterdings „erfunden“ sind.

Rechtsprechung zu Konfliktfällen

Einzelheiten können hier nicht dargestellt werden. Für die Formulierung leitender Prinzipien ist es jedoch möglich, sich an der seit längerem entwickelten Rechtsprechung zu Konfliktfällen zu orientieren, in denen es um die Einhaltung christlicher Religionsgebote oder weltanschaulicher Überzeugungen ging. Auch sind einige neuere Leitentscheidungen zu den Anliegen muslimischer ArbeitnehmerInnen ergangen.

Insgesamt wird den Bedürfnissen des Arbeitnehmers besonderes Gewicht zukommen, wenn es sich um hervorgehobenes religiöses Bedürfnis handelt (alle Religionen kennen Abstufungen), wenn der Arbeitgeber dieses Bedürfnis schon bei der Einstellung kannte und/oder wenn er dem Bedürfnis ohne größeren Aufwand Rechnung tragen kann.

Letzteres wird insbesondere dann der Fall sein, wenn es sich um einen Großbetrieb handelt und/oder wenn die Arbeitsleistung des Betreffenden leicht durch andere KollegInnen oder zeitlich verschoben erbracht werden kann. Insbesondere in Fällen, in denen erst eine Änderung der betrieblichen Tätigkeit oder des konkreten Einsatzes im Betrieb den religiösen Konflikt auslöst, werden Schutzbedürfnisse der ArbeitnehmerInnen im Vordergrund stehen.

Andererseits kommt betrieblichen Bedürfnissen dann besonderes Gewicht zu, wenn eine Berücksichtigung der Interessen der ArbeitnehmerInnen erheblichen Aufwand bereitet, ihre Tätigkeit deutlich entwertet oder wenn es sich um weniger bedeutsame Gebote handelt.

Besonderheiten gelten bei staatlichen Bediensteten

Besonders gewichtige betriebliche Bedürfnisse stellen weiterhin Sicherheitsbelange dar, zum Beispiel im Hinblick auf Kleidungsfragen. Auch in Fällen, in denen ArbeitnehmerInnen erst nach der Einstellung ihre religiösen Überzeugungen ändern, wird zumindest für eine gewisse Übergangszeit der betriebliche Bedarf oft das Übergewicht haben. Allerdings kann das Recht der ArbeitnehmerInnen auf eine Änderung ihrer Überzeugungen, auch wenn diese Wirkungen für die Arbeitstätigkeit haben, nicht dauerhaft eingeschränkt bleiben. Weniger Schutz verdienen ArbeitnehmerInnen schließlich dann, wenn sie die Arbeitsstelle trotz vorhersehbarer Konflikte mit ihren religiösen Überzeugungen übernommen haben.

Besonderheiten gelten bei staatlichen Bediensteten, wobei Unterschiede zwischen BeamtInnen und anderen Angestellten bestehen. Auch hier gilt grundsätzlich Religionsfreiheit. Der Staat kann sich auch nicht wie private Unternehmen auf gegenläufige Grundrechte berufen. Andererseits hat er seine Neutralität zu wahren. Je intensiver Bedienstete bei ihrer Arbeit den Staat in seiner hoheitlichen Tätigkeit repräsentieren, desto mehr Zurückhaltung ist bei sichtbar werdender Religionsausübung geboten. Eine „Selbstaufgabe“ hinsichtlich religiöser Kernanliegen kann jedoch nicht gefordert werden.

In den vergangenen Jahren hat das Kopftuch muslimischer Staatsbediensteter für Rechtsstreitigkeiten und Abwehrgesetzgebung gesorgt, die möglicherweise gegen die Verfassung verstößt, das Bundesverfassungsgericht wird darüber in absehbarer Zeit entscheiden. Es fällt auf, dass hier ausschließlich Frauen betroffen sind; der Bart muslimischer Männer ist bislang nicht gerichtskundig geworden. Gegenwärtig verzichten viele Musliminnen, die ein Kopftuch tragen möchten, wegen verbreiteter Widerstände auf die Aufnahme einer berufsqualifizierenden Ausbildung oder einer Berufstätigkeit. Das AGG, mehr aber noch eine gesellschaftliche Debatte über die Akzeptanz selbstbestimmter pluraler Lebensformen mögen hier weiterführen.

Zigarettenpause für die einen, Gebetspause für die anderen

Religionsgemeinschaften als Arbeitgeber haben das Recht, ihre religiösen Leitlinien für ArbeitnehmerInnen verbindlich zu machen, jedoch nicht grenzenlos. Je näher die Tätigkeit den Kern des Verkündigungsauftrags betrifft, desto eher sind Einschränkungen zulässig, und umgekehrt. Letztlich stellt sich indes für die Religionsgemeinschaften die Aufgabe, eine weitgehend skeptisch gewordene Gesellschaft vom Eigenwert ihres Arbeitsmodells zu überzeugen und, wo nötig, die Regelungen an gewandelte soziale Verhältnisse anzupassen. Mit der Rolle der Kirche als Arbeitgeberin wird sich in solchem Sinne beispielsweise der nächste Deutsche Evangelische Kirchentag im Juni 2015 in Stuttgart befassen.

Insgesamt ist es bemerkenswert, dass angesichts vieler Millionen religiös gebundener Menschen in Deutschland vergleichsweise wenige religionsbezogene Arbeitskonflikte vor Gericht verhandelt werden. In manchen Fällen mag dies daran liegen, dass ArbeitnehmerInnen davor zurückscheuen, dadurch ihren Arbeitsplatz zu gefährden. Es gibt jedoch deutliche Anzeichen dafür, dass in vielen Unternehmen verträgliche alltagstaugliche Lösungen im Sinne aller Beteiligten gefunden werden.

Hier haben sich auch Betriebsräte und Gewerkschaften Verdienste in Belegschaften erworben, die für Sonderregelungen, etwa für Ritualgebetszeiten, zunächst wenig Verständnis aufbrachten – manchmal schlicht nach dem Motto „Was dem einen die Zigarettenpause ist, ist dem anderen die Gebetspause“. Deutschland ist als säkularer, aber auch religionsoffener pluralistischer Staat im Grundsatz gut darauf vorbereitet, in sachlicher Abwägung gegenläufige Interessen auch in der Arbeitswelt zum Ausgleich zu bringen. In religiösen Fragen liegt es vor allem an der Zivilgesellschaft insgesamt, diese Chancen zu nutzen.

Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen- Nürnberg und Gründungsdirektor des dortigen Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa (EZIRE).

Mathias Rohe

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