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Wirtschaft: Ricardo Henrique

Geb. 1964

Vor seinem Foto eine Vase mit Lilien und Bilder vom heiligen Sebastian. Eine Familie, Vater, Mutter, vier Kinder, setzt sich zum Essen an den Tisch. Das älteste Kind, ein Junge, vielleicht 14 Jahre alt, hebt kurz den Kopf und schaut nur flüchtig auf die Teller, die Schüsseln und die Speisen. Dann senkt er den Blick wieder. Auf ein vor ihm liegendes aufgeschlagenes Buch.

Derselbe kleine Junge, wieder lesend, diesmal aber allein, hoch oben auf einem Baum, am Strand von São Paulo. Da hockt er, mit gebogenem Rücken und angezogenen Knien und liest: E.T.A. Hoffmann, Klaus Mann, Franz Kafka. Lauter Bücher von Deutschen aus dem Bücherregal der Eltern. Dann steigt der kleine Junge herab von seinem Baum, läuft in sein Zimmer, legt sich auf sein Bett und schaut auf die darüber hängende Schifffahrtskarte. Eine dicke Filzstiftlinie markiert die Route von São Paulo nach Hamburg.

Irgendwann kam Ricardo tatsächlich an in Deutschland. Für die vielen tausend Kilometer zwischen Brasilien und Berlin hatte er wenige Tage gebraucht. Die Reise, die folgen sollte, dauerte 13 Jahre.

Der junge brasilianische Germanist, begabt, vielsprachig, voller Leben, leidenschaftlich die Worte liebend und die Männer, arbeitete zunächst hinter Tresen, putzte, rang um eine Aufenthaltserlaubnis. Ricardo mühte sich, kämpfte. Begann mit dem Übersetzen von Texten, die erklärten, wie Agrarmaschinen in Gang zu setzen sind. Die Maschinen gaben ihm Raum, Freiraum, für die Literatur. Lebenswege. Die der Manns und Franz Kafkas, deren Tagebücher er ins Portugiesische übertrug. Die von Menschen, deren Leben in den beiden Weltkriegen zerstört worden war. Die von Künstlern, die Berlin einmal so reich gemacht hatten, und an denen Deutschland ab 1933 so arm war. Die seiner Freunde.

Fünf Männer setzen sich an einen Tisch. Auf dem Tisch steht, an die Wand gelehnt, ein Bild, ein enormes Bild. Enorm groß, großartig. Vor dem Bild eine Vase mit Madonnenlilien. Auf alten Darstellungen fehlen den Lilien meist die allzu anschaulichen Stempel und Staubfäden. Lilien standen oft in Ricardos Wohnung. Eine ließ er sich auf den Hals tätowieren. Um die Vase herum liegen kleine Abbildungen des heiligen Sebastian. Ein Körper, von Pfeilen durchbohrt, mit klaffenden Wunden. Auf einem Bild steckt der Pfeil an jener Stelle, auf die Ricardo sich seine Lilie hat malen lassen. Im Gesicht des heiligen Sebastians ist Schmerz nicht zu erkennen. Als könne er die Verletzungen ertragen, vielleicht sogar Lust empfinden. Der Schmerz offenbart ja nicht nur körperliche Grenzen. Er kann, über den Körper hinaus, andere Empfindungen erzeugen, Grenzen weiten.

Die fünf Männer am Tisch essen, trinken, sprechen. Hin und wieder heben sie ihre Köpfe, schauen das Bild an. Mal senkt sich ein Blick, stumm und traurig, ein anderes Mal gleitet er zu den Freunden, lächelnd, froh darüber, dass sie da sind. So wie Ricardo da ist, auf dem Foto: schön, mit fordernden dunklen Augen, nackter Haut. Der Körper. Die Lust. Das Begehren. Die Freude am Leben. Untrennbar miteinander verbundene Worte, gelebte Worte.

Oft gebrauchen die Menschen das Wort Freund. Viele Freunde werden dann zu einem Freundeskreis. Man sagt, der Tod eines Freundes bringe die Zurückgebliebenen noch enger zusammen. Doch dazu müssen sie zuvor zusammengewesen sein. Etliche von Ricardos Freunden entdecken sich erst jetzt. Jetzt tun sie die Dinge gemeinsam, die jeden allein überfordert hätten: Geschichten erzählen, Fotos anschauen, Briefe lesen, die Beerdigung organisieren.

Die Freunde empfangen Ricardos Eltern, seine drei Geschwister in Berlin. Noch hat niemand den Eltern gesagt, dass der Sohn zu Hause beerdigt werden möchte – in Berlin. Drei Wochen vor seinem Tod kam Ricardo von einer Reise nach São Paulo zurück. Versöhnt mit seinen Eltern und mit der Entscheidung, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Aber es existiert kein Schriftstück über seinen letzten Willen. Die Freunde können nur immer wieder erzählen, dass Ricardo angekommen ist, hier in dieser Stadt, nach 13 Jahren.

Ricardos Mutter hört zu. Und sie, die bald wieder den langen Weg nach Brasilien zurückgehen muss, gibt ihr Einverständnis mit einem sanften, beruhigten Nicken.

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