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Wirtschaft: Schlupflöcher für Terroristen

In Washington zeigen Graffiti-Sprayer, wie gefährlich Chemietransporte als Ziel für Anschläge sein können

Es ist ein regnerischer Nachmittag in Washington, als ein Graffiti-Künstler namens Serk sein Kürzel in grellen Farben an die Innenwand eines Eisenbahntunnels sprüht. Nicht einmal zehn Meter entfernt von ihm rattert ein Güterzug vorbei, beladen mit giftiger Chemie. „Wenn hier das richtige Gift vorbeikommt, könnten Leute wie al-Qaida zuschlagen“, sagt Serk, nachdem der letzte Wagon die Stelle passiert hat. „Dann heißt es: Gute Nacht Washington!“ Eigentlich redet Serk lieber über Farbe als über Politik. Doch in den letzten Wochen mischt er sich mit seinen Freunden in die Diskussion um ein umstrittenes Gesetzgebungsvorhaben ein.

Aus Furcht vor Terroranschlägen planen die Stadtväter von Washington, sämtliche Transporte gefährlicher Chemikalien von den Schienen und Straßen des Bezirks zu verbannen. Washington wäre damit die erste Stadt in den USA, die den Gefahrguttransport so einschneidend regelt. Hinter dem Gesetzentwurf steht eine Koalition aus Wissenschaftlern und Umweltschützern, darunter Greenpeace. Der Entwurf geht auf eine Initiative des Greenpeace-Aktivisten Rick Hind zurück, der die Frage der Chemietransporte durch Washington kurz nach dem 11. September 2001 an die Behörden richtete.

Mehr als 1,7 Millionen Waggons, gefüllt mit gefährlichen Substanzen, rollen jährlich über die Schienen der USA. Auf ihrem Weg in die Chemiefabriken rund um die US-Hauptstadt passieren 28 Prozent davon das Stadtgebiet von Washington. Damals schrieb Hind alle möglichen Behörden an: Das US-Transportministerium, das erst neu gegründete Ministerium für Heimatschutz und den Geheimdienst.

Niemand bestätigte ihm, dass es überhaupt solche Transporte durch die US-Hauptstadt gibt. Die Verschlossenheit der offiziellen Quellen brachte ihn auf darauf, die Graffiti-Künstler auszufragen. „In Tunneln und unter Brücken hat man eine einzigartige Sicht auf die Welt“, sagt Hind. Da die Sprayer sich oft in der Nähe der Gleise aufhalten, sollten sie herausfinden können, was an ihnen vorbeirollt. Schließlich müssen die Wagons laut US-Bundesgesetz mit einer Inhaltsangabe beschriftet sein.

Hilferuf in der Künstlerszene

Für Hind sind die Graffiti-Künstler auch der lebende Beweis für seine These von der Verwundbarkeit der Bahnanlagen. Scott Davis, der für die Bahngesellschaft Amtrak eine Abteilung zur Bekämpfung von Graffitis in Washington leitete, bestätigt die Schlussfolgerung: „Graffiti im Schienenbereich kann nur eines heißen: Zugang.“ Bereits nach kurzer Zeit meldeten sich mehrere Graffiti-Künstler auf den Hilferuf von Greenpeace, den Hind über ein Netzwerk von Freunden und Künstlern gestreut hatte.

Darunter war der 27-jährige Serk, der seine Identität aus Vorsicht vor Anzeigen wegen Hausfriedensbruch oder Sachbeschädigung nicht offenbaren will. Wie viele seiner Freunde setzt er seine Zeichnungen fast ausschließlich auf die Bahnanlagen, da diese Flächen nicht durch die Anti-Graffiti-Einheiten der Stadt gesäubert werden. „Wir Graffiti-Künster haben zu den Schienen und Tunnels der Stadt inzwischen eine fast romantische Beziehung“, sagt Serk. „Das ist unser Lebensraum, und deshalb wollen wir Greenpeace helfen.“

Über mehrere Wochen nahmen Serk und seine Sprayer-Freunde die Leute um Rick Hind mit auf ihren Touren in die verbotene Eisenbahnwelt. Sie zeigten ihnen die Schlupflöcher in den Zäunen und wie man ganz nah an die Gefahrgutzüge herankommt. Mit dabei waren Fotografen der Umweltorganisation und Reporter. Selbst bei Tage hatten es die Greenpeace-Leute nicht schwer, sich vor den Eisenbahnern zu verstecken. Die Beobachtungen zeigten, wie einfach es ist, sich an Züge anzuschleichen, die Tonnen von Chlor, Ammoniak, Fluorwasserstoff, Salz- oder Phosphorsäuren geladen haben. Selbst die Eisenbahngesellschaft CSX Transportation, der die Gleisanlagen in Washington gehören, gesteht, dass die Graffiti-Malerei und das unbefugte Betreten der Bahnanlagen ein Problem sind. Jede weiter gehende Gefährdung wird allerdings bestritten.

Zusammen mit der Amerikanischen Vereinigung der Eisenbahngesellschaften stemmt sich CSX sich gegen das von der Stadt geplante Transportverbot und verweist auf eigene Sicherheitsmaßnahmen. Diese würden ständig verbessert und schließen auch die Inspektion der Gleise und die Beaufsichtigung von Chemikalientransporten ein. Bob Sullivan, ein Sprecher von CSX sowie der Sicherheitschef des Unternehmens Skip Elliot sagen, der Transportbann würde nur dazu führen, dass die Giftzüge durch andere Städte umgeleitet werden.

„Wenn diese dann dem Beispiel Washingtons folgen und ebenfalls ein Verbot verhängen, wäre dies das Ende des Eisenbahntransports“, sagt Sullivan. Die Gesellschaft bestätigt allerdings, dass sie bereits einige Chemikalienzüge auf Weisung des Heimatschutzministeriums umleiten oder ausfallen lassen musste, um möglichen Anschlägen auf die Stadt vorzubeugen.

Für den US-Inlandsgeheimdienst FBI steht hingegen fest, dass die Gifttransporte eines der einfachsten Ziele für Terroristen sind. „Es ist viel einfacher, auf diese Weise an eine Wagenladung hochgiftiger Chemie zu gelangen, als solche Stoffe aus einer gesicherten Militärbasis zu entwenden“, erklärte Troy Morgan, FBI-Experte für Massenvernichtungsmittel, auf einer Konferenz für Chemikalien-Sicherheit im vergangenen Sommer.

Jay P. Boris vom Marineforschungsinstitut in Washington hat die Auswirkungen eines Terroranschlags auf einer Ratssitzung im letzten Oktober geschildert: Innerhalb der ersten 30 Minuten nach dem Bersten eines Chlor-Containers, so der Wissenschaftler, würden bis zu einhundert Menschen pro Sekunde an Lungenödemen sterben.

Robert Block

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