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Ein Mann am Arbeitsplatz fasst sich verzweifelt an den Kopf und spricht ins Telefon

© Thilo Rückeis

Seelsorge-Service für Mitarbeiter: Wenn die Firma Privatprobleme löst

Das Ende der Verzweiflung: Immer mehr Unternehmen beauftragen externe Berater, ihren Beschäftigten zu helfen. Männer rufen besonders häufig an.

Karin Schönlein* verliert den Boden unter den Füßen. Ein Sorgerechtsstreit mit dem früheren Lebensgefährten eskaliert, der Mann macht gewaltig Ärger und droht mit dem Familiengericht. Schönlein hat Angst, den Druck nicht auszuhalten. Sie ist durch den Wind und weiß nicht mehr weiter. In ihrer Not ruft sie eine Nummer in Norddeutschland an, die sie von ihrem Arbeitgeber hat. Am anderen Ende hebt jemand ab, der „anonyme berufliche, private und psychologische Beratung für schwierige Lebenssituationen“ macht. Das Besondere dabei: Die Berater in Lübeck wurden von Schönleins Arbeitgeber engagiert, der Berliner Firma GRG Services Group, die mit gut 3200 Beschäftigten in der Gebäudereinigung tätig ist.

„Wir sind für Sie da – in allen Lebenslagen“, erläutert die GRG-Geschäftsleitung gegenüber der Belegschaft das ungewöhnliche Angebot mit dem Beratungstelefon. „Wir wollen ihnen anbieten, was in einer Familie selbstverständlich ist: Hilfe und Beratung in allen Lebenslagen.“ Dafür erhält jeder Beschäftigte eine Karte mit der Nummer des professionellen externen Beraters Carpediem24. „Nutzen Sie diese kostenlose, anonyme Hilfe – denn wir wollen, dass es Ihnen gut geht!“, schreibt die Geschäftsführung.

Hinter dem ungewöhnlichen Angebot steckt auch betriebswirtschaftliches Kalkül: Früher habe man sich vor allem um Kunden respektive Aufträge bemüht, erläutert GRG-Chef Stephan Schwarz. Wegen des zunehmenden Fachkräftemangels müsse man sich nun etwas einfallen lassen, um als Arbeitgeber attraktiv für Arbeitnehmer zu sein.

Am Telefon ist die Hemmschwelle für Männer niedriger

Die Firma von Schwarz gehört zu rund 130 Unternehmen, für die Andrea Gensel mit knapp 40 Mitarbeitern Notfallberatung anbietet. Die 50-jährige Betriebspsychologin und Gesprächstherapeutin hat ursprünglich Führungskräfte beraten. Als zunehmend psychologische Themen auf den Tisch kamen und man irgendwann auch über Depressionen offen reden konnte, erweiterte sie das Beratungsspektrum auf ganze Belegschaften und auch auf die Angehörigen der Beschäftigten. Am Carpediem-Telefon sitzen alle möglichen Professionen – natürlich Psychologen und Therapeuten, aber auch Erziehungswissenschaftler, Pädagogen und Verhaltenswissenschaftler. Und das Telefon klingelt ständig. „Telefonberatung ist oft effizienter als ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht“, sagt Gensel und erinnert an Sigmund Freud, dessen Patienten ja auch so auf der Coach gelegen hätten, dass sie den Therapeuten nicht sahen. Vor allem Männer nutzten gerne das Telefon, weil bei diesem Medium die Hemmschwelle nicht so hoch ist.

Zum Beispiel die Niedersächsischen Landesforsten. 17 Prozent der 1300 Beschäftigten haben bereits bei Carpediem angerufen, das sind doppelt so viel wie sonst üblich. Gensels Erklärung: Vier Fünftel der Beschäftigten, zumeist Förster und Waldarbeiter, sind männlich. Aber auch Männer haben Probleme. „Immer mehr Mitarbeiter wenden sich an den Betriebsarzt mit Themen, die nicht nur medizinisch sind“, erzählt Klaus Jänich, Vizepräsident der Landesforsten. Ein Großteil der Probleme habe überhaupt nichts mit dem Beruf zu tun, sondern mit privaten Umständen. Da man sich aber als Arbeitgeber oder Vorgesetzter eher nicht in private Dinge einmischen sollte, sei man auf die Idee mit Carpediem gekommen: Ein externer Dienstleister, der den Beschäftigten hilft. Dem Forstunternehmen ist das rund 2500 Euro im Monat wert.

„Es ist sensationell gut angekommen“, berichtet Jänich, das Geld sei bestens angelegt. „Die Kollegen empfinden es als große Wertschätzung, dass sie so eine Möglichkeit haben. Und wir nehmen Themen ernst, die wir dienstlich nicht regeln können.“

Nur ein Viertel der Probleme ist beruflicher Natur

Andrea Gensel unterscheidet drei Motive für Anrufe: berufliche, private und gesundheitliche. „Die Menschen plagen sich mit allem Möglichen.“ Ungefähr ein Viertel der Probleme sei beruflich bedingt, drei Viertel betreffen demnach die Gesundheit oder das Privatleben. „Sucht ist ein größeres Thema geworden“, hat sie in jüngster Zeit beobachtet, etwa Medikamentenmissbrauch. Ein anderer Trend: Immer mehr Menschen tun sich schwer mit der Pflegebedürftigkeit von Angehörigen. Im Schnitt dauert ein erster Anruf bei Carpediem24 eine knappe Stunde, und schon dabei spüre sie, „wie Riesensteine purzeln“. Meistens erkennen Gensel und Kollegen ziemlich rasch, ob Telefonate ausreichen oder ob andere Fachleute eingeschaltet werden müssen, etwa Therapeuten. Karin Schönlein von GRG hat insgesamt dreimal angerufen. Beim ersten Gespräch über den Sorgerechtsstreit ging es um juristische Fragen, finanzielle Ängste und überhaupt Emotionen. „Frau Gensel hat mich auf den Boden zurückgezogen“, erinnert sich Schönlein. Sie konnte wieder aktiv werden und Auswege suchen.

Der Fachbegriff für externe Mitarbeiterberatung heißt Employee Assistance Program (EAP) und stammt aus den USA, wo fast jedes zweite Unternehmen mit dieser Art der Mitarbeiterfürsorge vertraut ist. Hierzulande gibt es bislang eine Handvoll größerer Anbieter, doch es kommt Schwung auf dieses Feld der Personalpflege. Gensel spricht von der „Generation Why“, den jungen Leuten zwischen 20 und 30, denen Karriere und Status nicht so wichtig sind für das persönliche Glück und die sich schlicht fragen: „Warum muss man sich aufopfern im Job?“ Auf diese Generation müssen sich Firmen einstellen.

Ein „verändertes Bewerberverhalten“ hat Jürgen Strahl ausgemacht, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie werde immer wichtiger für die Attraktivität des Arbeitgebers. Strahl ist als Personalleiter bei der Hanse Merkur für 1200 Beschäftigte zuständig. Und da bei der Versicherung wie in vielen anderen Firmen auch die psychischen Erkrankungen zunehmen, häufig aus persönlichen Gründen, „wollten wir etwas anbieten, was im privaten Bereich liegt“.

Alles bleibt anonym

Rund neun Prozent seiner Beschäftigten haben sich inzwischen von Carpediem24 beraten lassen. Strahl weiß das so genau, weil jeder Carpediem-Kunde eine Auswertung bekommt: Wie viele haben angerufen, wie viele Beratungen pro Fall gab es, wie viele Führungskräfte waren dabei, wie viele Familienangehörige. Alles selbstverständlich ohne Namen. Anonymität ist oft die Voraussetzung für den Sprung über die Hemmschwelle.

„Carpediem24 unterliegt der Schweigepflicht und darf damit keine Auskunft gegenüber Dritten weitergeben – auch und insbesondere nicht gegenüber der GRG“, heißt es in der GRG-Broschüre, mit der die Geschäftsführung die eigenen Mitarbeiter zum Anrufen ermuntert. Von Montag bis Samstag zwischen 7 Uhr und 22 Uhr ist das für die GRG–Beschäftigten möglich. Die Erreichbarkeit und die Größe des Unternehmens sind maßgeblich für den Preis, den Andrea Gensel mit ein bis zwei Euro pro Mitarbeiter und Monat angibt.

„Besser geht es nicht“, sagt Dieter Strunzel über die Berater, die ihm von heute auf morgen eine Empfehlungsliste über Pflegeeinrichtungen für seinen schwerkranken Vater schickten. Der GRG-Mitarbeiter ist nicht nur Carpediem dankbar, sondern auch dem eigenen Arbeitgeber.

Ist das Ganze also eine Art Telefonseelsorge für die Arbeitnehmer, damit die sich wohler fühlen und glücklich sind bei der Arbeit? „Wir helfen dabei, die schweren Rucksäcke zu leeren“, beschreibt Gensel ihren Job. Und das habe weniger mit Seelsorge als mit Lösungskompetenz zu tun. „Es gibt immer ganz viele Lösungen, aber manchmal sieht man die nicht.“ Und braucht dann eben Hilfe von außen. Ein großes Geschäftsfeld, wenn sich Firmen als Arbeitgeber mit diesem erweiterten Fürsorgeverständnis profilieren wollen. „Probleme hat schließlich jeder“, sagt Karin Schönlein, die längst wieder Boden unter den Füßen hat.

*Namen geändert

Womit Firmen Fachkräfte locken

Krankenpfleger, IT-Experten, Ingenieure – Fachkräfte werden in allen Branchen gesucht. Und der Mangel an qualifizierten Mitarbeitern nimmt zu. Nach Schätzungen des Branchenverbandes Bitkom werden allein in der IT-Branche mehr als 40 000 Experten gesucht. 2020, so prognostiziert der DIHK, stehen sechs Millionen Arbeitskräfte weniger zur Verfügung. Die Unternehmen müssen sich also etwas einfallen lassen, wenn sie für Fachleute attraktiv sein wollen. Einige Beispiele:

VW baut Wohnungen

Der Volkswagen-Konzern hat 550 000 Beschäftigte weltweit, davon etwa 50 000 am Stammsitz in Wolfsburg. Um in Niedersachsen als Arbeitgeber interessant zu bleiben, hat sich das Unternehmen zu einem ungewöhnlichen Schritt entschlossen: VW lässt sein Programm zum Bau von Werkswohnungen wieder aufleben. Die vor 60 Jahren gegründete Immobilientochter des Autokonzerns, die knapp 140 MIllionen Euro umsetzt, habe die Aufgabe, VW dabei zu unterstützen, Top-Arbeitgeber zu bleiben, sagte Konzernbetriebsratschef Bernd Osterloh der Zeitschrift „Mitbestimmung“. „Dazu gehört auch die Versorgung mit Wohnraum.“ Rund 500 Wohnungen sollen in den kommenden fünf Jahren in Wolfsburg gebaut werden. 110 Millionen Euro hat VW in die Modernisierung seiner bestehenden rund 9500 ehemaligen Werkswohnungen gesteckt, die noch zu einem Drittel von Beschäftigten bewohnt werden – der Rest ist frei am Markt vermietet. Jedes Jahr sollen 25 Millionen Euro in die weitere Instandhaltung fließen.

Firma versorgt Kranke

Die Hardy Schmitz GmbH, ein mittelständischer Großhandel für Elektrotechnik und Systemdienstleistungen mit Hauptsitz in Rheine, bietet seinen 300 Mitarbeitern seit Dezember 2012 eine private Krankenzusatzversicherung an – mit diversen Vorsorgeleistungen und der Kostenerstattung bei stationären Krankenhausbehandlungen. Die Firma, die mit dem Versicherer Axa kooperiert, ist nach eigenen Angaben einer der ersten Arbeitgeber, der eine betriebliche Krankenversorgung für alle Mitarbeiter eingeführt hat. Dies nicht nur als reiner Wohltäter: Hardy Schmitz erhofft sich dadurch geringere Fehlzeiten, eine einfachere Personalverwaltung – und Bewerbungen von Fachkräften.

Smartphones für Azubis

Besonders das Handwerk klagt über einen dramatischen Fachkräftemangel. Laut Handwerkskammern waren Ende vergangenen Jahres 15 000 Lehrstellen nicht besetzt, ähnlich dürfte die Situation 2013 sein. Das Münchener Ludwig-Fröhler-Institut hat unlängst untersucht, welche „monetären Anreize“ Handwerksbetriebe bieten können, um junge Menschen für einen Handwerksberuf zu begeistern – neben beruflichen Aus- und Weiterbildungsangeboten oder einem guten Betriebsklima. Die Handwerksunternehmen zeigen dabei einigen Einfallsreichtum. Neben Sondervergütungen („Begrüßungsgeld“) von bis zu 1000 Euro für ausgelernte Fachkräfte bieten einige Betriebe höhere Stundenlöhne, Auslandsaufenthalte oder Fremdsprachenkurse. Auch Monats- oder Jahreskarte fürs örtliche Schwimmbad oder ein Fitnessstudio sowie Dienstwagen, die privat genutzt werden dürfen, sind im Handwerk keine Seltenheit mehr. Geldprämien für gute Noten oder ein iPhone als privat nutzbares Dienst- handy funktionieren ebenfalls als Köder, um gute Bewerber davon abzuhalten, zur Konkurrenz zu gehen. Henrik Mortsiefer

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