zum Hauptinhalt

Wirtschaft: Sekt trinkend die Welt aus den Angeln heben.

Marianne Christine Varduhn Geb. 1951

Marianne Christine Varduhn Geb. 1951

Das Telefon ist eine Schlange. Die pure Verführung. Mittels einer schlichten Zahlenkombination eine vertraute Stimme anfordern, die in die Phantasiewelt begleitet, Sorgen hinwegfegt, das Herz entrümpelt. Mary telefoniert am liebsten in der Nacht. Durch die Nacht hindurch kann sie am Hörer liegen, redenredenreden, zwischendurch Kaffee kochen, ein Buch aus dem Regal nehmen, Gedichte vorlesen. Mary ist ein Nachtmensch. Mary ist meistens die Letzte auf Partys. Mit Mary kann man Mumm-Sekt trinkend die Welt aus den Angeln heben. Von Mary kann man schwärmen.

Was er an ihr mochte? Jürgen überlegt, raucht und schweigt. Die Zigaretten enden halb abgebrannt im Aschenbecher. Dann liegt plötzlich ein Foto auf dem Tisch. Eine blonde Frau im schulterfreien schwarzen Kleid, mit einem Lächeln, leise und verschmitzt. Jürgen erzählt von der ersten Begegnung. Sie meldete sich auf sein Inserat „Tango-Partnerin gesucht“. Viel zu spät kam ihr Anruf. Eine Tango-Partnerin gab es da längst. Aber die Stimme am Telefon ließ sich nicht beirren. Sie wollte ein Treffen und setzte sich durch. Als Jürgen Mary kennen lernte, war sie schon unheilbar krank.

Mary, Janne, Marie – sie hat viele Kosenamen, weil Marianne zu brav klingt und ein bisschen sperrig. Janne will den Menschen nahe kommen. „Katzenneugierig“ ist sie, sagt Rosi, ihre beste Freundin. Und eine Anknüpfungskünstlerin. Sie merkt sich immer den letzten Stand eines Gesprächs, speichert Namen, Geburtstag und zugehöriges Gesicht ab und kann alles zusammen noch nach Jahren wieder aufrufen. So fühlt sich jeder geachtet und verstanden.

Ihre Eltern hatten einen Lebensmittelladen, in dem sie von morgens bis abends ihrer Kundschaft dienten. Ein Leben für die Arbeit. Auch die geringsten Wünsche scheiterten an der Sperrklausel: Geht nicht, weil der Laden… Janne lernte, die Freiheit lieben – auch das Freimachen von Zwängen, denen man sich irgendwann mal freiwillig unterworfen hat. Wenn jemand ihrer geliebten Freiheit ein Leid antun wollte, stellte sie sich stur. Eifersucht? Soll er doch! Janne ging trotzdem mit den Kollegen aus, fuhr mal übers Wochenende nach Sylt, tanzte sich die Füße wund, um danach im dunklen Meer baden zu gehen. Ihr Lieblingslied von Queen: I want to break free.

Janne wusste, welche Bar dem Zeitgeist voraus war, welche Ausstellung neue Einsichten versprach, wann die Philharmoniker wieder verrückte Sachen spielen. Wo man Klamotten kaufen konnte, die ausstrahlen, ohne sich aufzudrängen. Ballkleider waren ihre Spezialität. Zur Anprobe bei Rosi stellte sie sich in Pose – „und, Röschen, werde ich heute die Königin der Nacht?“ Ihre Farben waren gelb und orange. Sie mochte Kerzenlichtromantik. Eine Armee von Teddybären bewachte ihr Zuhause.

Soweit die Sonnenseite. Nun der Schatten.

Das Jahr 1993. Im Januar erfährt Marie, dass ihr Sohn Marc an Knochenkrebs leidet. Am 3. Dezember, es ist ihr Geburtstag, kommt die zweite Krebsdiagnose. Diesmal gilt sie ihr. Später wird auch ihr Vater an Krebs erkranken.

Mary hat genug Kraft, Marc, ihren Vater und sich selbst zu pflegen und das Leben weiter zu genießen. Als sie zur Nachsorge-Kur auf Sylt ist, büxt sie heimlich aus, um zur Goldenen Hochzeit ihrer Eltern zu fahren. In der folgenden Nacht steigt sie durchs Fenster wieder ins Sanatorium ein. Ihr Sohn macht noch viel verrücktere Sachen, um den Fahrtwind des Lebens zu spüren. Als er stirbt, schreibt sie eine SMS an Rosi: „Marc ist endlich frei…“

Gibt es einen Tod? Nicht für Mary. Es gibt nur eine Freiheit, die vollkommen ist. Am Meer kann man sie spüren. Ein lautloser Wind, der sehnsüchtig macht. Todessüchtig. Einmal sitzt Mary an der Ostsee und weint unentwegt. Sie will nicht sterben. Sie will nicht alleine sein. Niemand darf sich von ihr verabschieden.

Bei der Trauung mit Jürgen stehen die Gäste sehr benommen hinter der strahlenden Braut. „Du hast doch wohl nicht geweint, Rosi, oder?“ Tränen sind streng untersagt, weil es keine Freudentränen sind. Die Standesbeamtin ist ins Krankenhaus Waldfriede gekommen. Die Mitarbeiter haben ein Zimmer zur Verfügung gestellt, die Freunde haben es geschmückt. „Nottrauung“ nennen das die Fachleute. Für Mary ist es eine wunderschöne Hochzeit. Sie ist schon sehr schwach. Ihre Ehe währt zehn Tage.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false