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Bedürftiger im Regierungsviertel. Ein Bettler bittet in der Nähe des Reichstags Passanten um eine Spende.

© Kay Nietfeld/dpa

Soziale Ungerechtigkeit: Der Wohlstand steigt, die Armut auch

Obwohl die Staatskasse voll ist, sind immer mehr Menschen in Deutschland arm – besonders in Berlin. Die Menschen empfinden das Land als ungerecht, heißt es im neuen Armutsbericht.

In Deutschland steigt der Wohlstand, gleichzeitig aber auch die Armut. Während hierzulande das Bruttoinlandsprodukt seit Jahren wächst, die Reallöhne 2016 das dritte Jahr in Folge gestiegen sind und der Staat wegen guter Konjunktur und hoher Beschäftigung im vergangenen Jahr einen Überschuss von 23,7 Milliarden Euro erwirtschaftet hat, sind laut aktuellem Armutsbericht von zehn Sozialverbänden fast 13 Millionen Bundesbürger von dieser Entwicklung abgehängt und gelten als arm. Die Verbände berufen sich bei ihren Berechnungen auf das Statistische Bundesamt, das den Anteil der Menschen mit einem Einkommen unter 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens misst.

Erst vorgestern gab die Bundesagentur für Arbeit einen neuen Rekord bekannt: Im Februar sank die Zahl der Arbeitslosen auf rund 2,8 Millionen; eine Million weniger als vor zehn Jahren. Seitdem sind sehr viele – auch sozialversicherungspflichtige – Jobs entstanden. Und doch arbeitet jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland für weniger als zehn Euro in der Stunde.

Schwelle: 942 Euro Einkommen im Monat

„Die wirtschaftliche Entwicklung schlägt sich schon lange nicht mehr in einem Sinken der Armut nieder“, kritisierte Schneider am Donnerstag bei der Vorstellung des Armutsberichts. Mit einer Armutsquote von aktuell 15,7 Prozent sei ein neuer Höchststand seit der Wiedervereinigung erreicht. Trotz guter Konjunktur. Trotz gutem Arbeitsmarkt. Die Armutsschwelle liegt bei einem Single bei 942 Euro Einkommen im Monat, bei einem Paar mit zwei kleineren Kindern bei 1978 Euro.

Einem extrem hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind Arbeitslose, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Ausländer und Rentner. Minderjährige und junge Erwachsene sind dabei häufig von Armut betroffen, wenn sie aus ärmeren Elternhäusern stammen und keinen oder einen niedrigen Schulabschluss haben. Zwei Millionen Kinder und Jugendliche bekommen Hartz IV. Die Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbunds, Cordula Lasner-Tietze, mahnte: „Aus Kindern und Jugendlichen in Armut werden nicht selten junge Erwachsene in Armut und aus diesen wiederum arme Eltern.“

Armut verteilt sich quer durch Deutschland

Geografisch gesehen ist Armut längst kein ausschließlich ostdeutsches Thema mehr – sie verteilt sich quer über die Republik. Dabei sind Bremen, Berlin und Nordrhein-Westfalen nach den vorliegenden Zahlen besonders von dem Phänomen betroffen (siehe Grafik).

Kritiker des Armutsberichts monieren seit Jahren dessen Systematik. „Ich finde die Zählweise, die dort Anwendung findet, schwierig“, sagt etwa der CDU-Politiker Karl-Josef Laumann (CDU). Der Bericht beleuchte lediglich die relative Armut im Land. „Da wird nur das Einkommen berücksichtigt. Ob der Mensch dahinter Student ist und später gut verdienen wird, oder ein Schulabbrecher, der wenig Chancen auf eine Arbeit hat, darüber sagen die Zahlen nichts aus. Wir müssen uns um die tatsächliche Armut kümmern und die ist vor allem dort, wo derzeit wenig Chancen auf Teilhabe bestehen.“

Katrin Göring-Eckardt, Grünen-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, forderte angesichts der Zahlen eine Kindergrundsicherung sowie Investitionen in den sozialen Wohnungsbau und eine „Garantierente“, die Altersarmut verhindere.

Schulz wirbt mit mehr sozialer Gerechtigkeit

Auch die Mehrheit der Bürger empfindet Deutschland – wie Umfragen des Statistischen Bundesamts belegen – als ungerecht. Dass der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz laut nach mehr sozialer Gerechtigkeit ruft, könnte daher ein Grund für seine Beliebtheit sein. Es ist ein relevantes, wenn auch klassisches Thema für seine Partei. Für Annelie Buntenbach, DGB-Vorstandsmitglied, liegen die Ursachen für die Wahrnehmung der Bürger in dem großen Niedriglohnbereich und den vielen atypischen Beschäftigungen. Kritiker werfen der „Agenda 2010“ vor, dafür verantwortlich zu sein. Martin Schulz will die Agenda korrigierenzum Gefallen vieler.

„Der Arbeitsmarkt und die Gesellschaft sind in Deutschland tief gespalten“, sagte Buntenbach dem Tagesspiegel. Laut der Hans-Böckler-Stiftung sind Vermögen in kaum einem anderen Land so ungleich verteilt wie in Deutschland. Eine stärkere Besteuerung von hohen Erbschaften und Schenkungen sei notwendig, ebenso die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Eigentlich ähnelt dieEinkommensverteilung hierzulande einer Zwiebel: dünn an den Enden, dick in der Mitte. Die meisten Deutschen stellen sie sich aber wie eine Pyramide vor: unten eine breite Masse, die wenig verdient. Oben eine kleine Spitze, der es sehr gut geht. Also schlechter als sie ist.

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