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Eine neue Studie hat die Migrationsströme nach der EU-Osterweiterung untersucht.

© dpa

Sozialmigration: Die Mär von den faulen Ausländern

Viele Menschen sind überzeugt: Zuwanderer wollen nur den Sozialstaat ausnutzen. Eine aktuelle Studie widerspricht der Stammtischparole deutlich.

Für fast jeden dritten Deutschen besteht kein Zweifel: „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“. In einer repräsentativen Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung stimmten im vergangenen Jahr 31,4 Prozent der Befragten dieser Aussage zu.

Thilo Sarrazin spricht diesen Menschen in seinem umstrittenen Buch „Deutschland schafft sich ab“ aus der Seele: „Wer vor allem an den Segnungen des deutschen Sozialstaats interessiert ist, der ist bei uns schon gar nicht willkommen.“ Aber gibt es diese sogenannte Sozialmigration überhaupt? Ziehen die westlichen Wohlfahrtsstaaten arme Menschen aus anderen Ländern wirklich magnetisch an?

Ein vierköpfiges Forscherteam um Klaus Zimmermann, Direktor des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), ist dieser Frage jetzt wissenschaftlich auf den Grund gegangen - und gibt Entwarnung: „Alle Schätzungen für Migranten innerhalb der EU signalisieren, dass die Wanderungsbewegungen in der EU nicht davon abhängen, wie großzügig die Arbeitslosenversicherung in einem Land ist“, lautet das Fazit der Studie. „Die Migranten wollen sich nicht in die soziale Hängematte legen“, sagt Zimmermann. „Sie wollen arbeiten.“

Dass die Arbeitslosenquote von Ausländern höher ist als die von Deutschen, lässt der IZA-Chef als Gegenargument nicht gelten. Der Grund ist ein anderer: das im Durchschnitt schlechtere Qualifikationsniveau. Unter Deutschen und Ausländern mit vergleichbarer Ausbildung sind ähnlich viele arbeitslos.

Die IZA-Studie stützt die Ergebnisse von Studien aus den vergangenen Jahren, ist aber methodisch anspruchsvoller. Die Ökonomen Giacomo De Giorgi (Stanford University) und Michele Pellizzari (Universität Bocconi) haben die Migrationsströme nach der EU-Osterweiterung untersucht. Sie stießen nur auf einen sehr schwachen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Sozialleistungen - die von manchen Ökonomen prophezeite millionenfache „Migration in den Sozialstaat“ ist ausgeblieben.

„Weltweit sprechen viele Argumente gegen die These, dass Sozialleistungen ein Magnet für Migranten sind“, lautet auch das Fazit eines Forschertrios um den dänischen Ökonomen Peder Pedersen (Universität Aarhus), das 2008 im renommierten „European Economic Review“ die Zuwanderung in 27 Industrieländern unter die Lupe nahm.

Keine Belege für Stammtischparolen

„Es gibt bislang nicht viel empirische Forschung zu diesem Thema - aber die Arbeiten, die existieren, zeichnen alle ein ähnliches Bild“, fasst Thomas Bauer, Vize-Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), den Forschungsstand zusammen.„Das Phänomen der Migration in die Sozialsysteme wird in der öffentlichen Diskussion und der allgemeinen Wahrnehmung weit überschätzt“, sagt der RWI-Forscher. Die ökonomische Forschung zeige: Große Wanderungsbewegungen kommen nur in Gang bei gewaltigen Lohn- und Einkommensunterschieden zwischen Ländern.

Viele Menschen scheuen den Umzug in ein anderes Land aus Gründen, die wenig mit wirtschaftlichen Faktoren zu tun haben: Das Lernen einer neuen Sprache ist mühsam, das gewohnte soziale Umfeld aufzugeben, fällt schwer. „Diese psychologischen Kosten von Migration werden in der öffentlichen Diskussion stark unterschätzt“, betont Bauer.

Selbst innerhalb eines Landes, in dem es keine sprachlichen und kulturellen Barrieren gibt, sind unterschiedlich generöse Sozialleistungen kein Faktor, der Menschen im großen Stil zum Umzug bewegt, zeigt eine Studie der US-Ökonomen Phillip Levine und David Zimmerman. Sie stellten fest: Arme, alleinerziehende Mütter in den Vereinigten Staaten ziehen nicht systematisch in Bundesstaaten, in denen sie mehr Geld vom Staat bekommen.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt das Forscherteam um Klaus Zimmermann für 19 europäische Staaten und die Jahre 1993 bis 2008. Die Ökonomen trugen aus zahlreichen Quellen detaillierte Daten über die staatlichen Leistungen für Arbeitslose, die Konjunktur- und Arbeitsmarktlage sowie die Migrationsströme zusammen. Sie fanden keinerlei Indizien dafür, dass generösere Sozialleistungen EU-Bürger dazu bringen, von einem Land in ein anderes zu ziehen.

Bei Zuwanderern aus Nicht-EU-Staaten sieht es auf den ersten Blick etwas anders aus: Hier beobachteten Zimmermann und seine Koautoren in den Rohdaten einen moderaten Zusammenhang zwischen Sozialstaat und Zuwanderung.

Allerdings können sie zeigen, dass der Grund dafür ein anderer ist, als an vielen Stammtischen vermutet wird. Nicht hohe Sozialleistungen ziehen mehr Zuwanderer an, sondern die Regierungen reagieren auf höhere Zuwanderung, indem sie Sozialleistungen ausbauen. „Die Debatte über die Sozial-Migration geht in die Irre“, lautet daher das Fazit der Studie. „Sie beruht nicht auf empirischen Belegen.“

(Quelle: Handelsblatt.com)

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